Am 4. Juli 2006 hat die Koalitionsregierung "Eckpunkte zur Gesundheitsreform 2006“1) beschlossen, die unser Gesundheitssystem grundlegend reformieren sollen. Die Reaktionen auf diese "Eckpunkte" waren fast ausschließlich negativ: Ein Kreis von 18 Gesundheitsökonomen2) hat diesen "Eckpunkten" den Charakter einer Reform abgesprochen. Für den Finanzexperten Professor Raffelhüschen geht die Verschuldung in den Sozialsystemen weiter und wird nicht gebremst. Die gesetzlichen Krankenkassen laufen Sturm, weil viele Kassenfunktionäre durch Einführung einer Dachorganisation Macht und Posten verlieren.
Die KBV ist noch wenige Tage vor der Verabschiedung der Eckpunkte auf den Kurs von Gesundheitsministerin Ulla Schmidt eingeschwenkt, um als öffentlich-rechtliche Institution zu überleben; sie will Verwalter der GKV-Gelder bleiben und will die Gesamtvergütung nach den von Vertragsärzten angegebenen Diagnosen verteilen; sie schafft damit den Leistungsbezug über Leistungsziffern ab und wird damit noch mehr zum Handlanger einer staatlichen Verteilungsmedizin.
Die KBV gibt jetzt langjährig aufgebaute Positionen der Ärzteschaft auf, dies sind u. a. Kostenerstattung, Forderung nach kostendeckenden Honoraren und Freiberuflichkeit. Genau diese Positionen jedoch hat die neu gegründete „Allianz Deutscher Ärzteverbände“ noch vor wenigen Wochen als Ziel der Ärzteschaft formuliert. Mit diesem Richtungswechsel hat sich die KBV als Interessenvertretung der freiberuflich tätigen Ärzte verabschiedet.
Zwischenfazit: Bevölkerung muss umdenken
Die "Eckpunkte zur Gesundheitsreform 2006" haben gezeigt, dass die Regierungskoalition unfähig ist, gegen die politischen Ziele des Koalitionspartners SPD, besonders der Gesundheitsministerin Ulla Schmidt, eine Reform durchzusetzen. Ziel der SPD war nach eigenen Angaben, Leistungskürzungen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zu verhindern. Mit dieser Haltung wurde eine Reform blockiert, die wegen der defizitären Haushaltslage der GKV von allen Seiten als dringlichst eingestuft wird.
Solange jedoch etwa die Hälfte der Bevölkerung nicht wirklich sparen will, das heißt keine Leistungskürzungen hinnehmen will, wird es keine echte Gesundheitsreform geben. Der "Spiegel" betitelt die Situation als "kollektiv verantwortungslos"3), weil die Verschuldung in den Sozialsystemen ständig zunimmt und die Reform des Sozialstaates zu Lasten zukünftiger Generationen nicht angepackt wird.
Dabei sind die Optionen für eine Reform bekannt: Entweder die GKV-Leistungen werden reduziert, oder die Steuern werden erhöht, um Anteile der GKV zu finanzieren, oder die Kassenbeiträge werden erhöht. Alle drei Optionen belasten den Bürger.
Aus ärztlicher und ökonomischer Sicht wird an der Reduzierung des Leistungskatalogs des staatlichen Gesundheitssystems (GKV) kein Weg vorbei führen. Belässt man die jetzigen Leistungen der GKV im Katalog und erweitert diesen sogar noch um neuere Leistungen wie Akupunktur usw., wird dieses zu einer Verschärfung der finanziellen Schieflage und zu nachfolgender Zwangswirtschaft im Gesundheitswesen führen.
Wir Deutsche stehen also vor der Frage, ob wir eine staatliche Zwangswirtschaft im Gesundheitssystem haben wollen oder eine weitgehende Privatisierung des Gesundheitssystems mit einer staatlichen Regelung der Notfallversorgung, ähnlich wie es die Holländer am 1.1.2006 eingeführt haben4). Eine Zwischenlösung wird nur ein fauler Kompromiss sein.
Wie umfangreich muss eine staatlich regulierte Grundversorgung sein?
Diese Frage wird die Deutschen und insbesondere die Ärzte in Zukunft beschäftigen:
a) Will man das Ausmaß der Grundversorgung eng halten, werden nur Notfälle, Notfalloperationen und eine Basisversorgung für Akutfälle (Notdienst) in der Grundversorgung abgedeckt sein. Der Umfang einer enggefassten Grundversorgung könnte z. B. alle Leistungen umfassen, die wir als Touristen in einem europäischen Ausland bei Notfällen für notwendig halten.
b) Ein mittelgroßer Umfang der Grundversorgung könnte bedeuten, dass nur Leistungen, deren Nutzen durch evidenzbasierte Untersuchungen gesichert ist, im Leistungskatalog verbleiben. Solche Kriterien werden den Entscheidungen des Gemeinsamen Bundesausschusses Ärzte-Krankenkassen (G-BA) für neue Leistungen der GKV zu Grunde gelegt.
c) Der Umfang der Grundversorgung entspricht der jetzigen GKV-Versorgung oder wird nur etwas verringert. Dieses ist aus Sicht der Bevölkerung zwar wünschenswert, ist aber nur zu Lasten Dritter finanzierbar und damit verantwortungslos. Aus diesem Grund plädiert u. a. der Gesundheitsexperte der SPD-Fraktion Eike Hovermann5) - im Gegensatz zu der SPD-Gesundheitsministerin Ulla Schmidt - für eine Basisversorgung z. B. nach a) oder b), und für Zusatzversicherungen für alle Leistungen, die aus dem jetzigen GKV-Leistungskatalog herausgenommen werden.
Antwort der freien Ärzte auf die Eckpunkte der Bundesregierung
Die Antwort der freien Ärzte auf das Patt in der Bundesregierung sollte zwei Ziele haben:
1.) Die „Allianz Deutscher Ärzteverbände“ wird als neue, bundesweite Interessenvertretung der Ärzte anerkannt, weil die KBV als halb-staatliches Organ die Interessen der niedergelassenen Ärzte nicht mehr wahrnehmen kann und will.
2.) Die Ärzte sollten in der Öffentlichkeit, das heißt vor ihren Patienten, dafür eintreten, dass das Gesundheitswesen weitgehend privatisiert wird und der Staat nur noch eine Basisversorgung für Notfälle regelt, wie es auch das Europäische Parlament im Jahre 20006) beschlossen hat.
Befürworten wir Ärzte beide Ziele, dann haben wir als die Hauptakteure des Gesundheitswesens auch vorgegeben, welche Art von Gesundheitssystem wir Deutsche in Zukunft haben werden, nämlich ein privatisiertes. Weiterhin ist unumgänglich, dass alle Verträge - z. B. diejenigen mit der KV - eingehalten oder gekündigt werden müssen. Die (ungeschriebenen) Verträge der Kassenärzte mit der KV und damit mit der GKV geben vor, dass nur diejenigen Leistungen, die notwendig und zweckmäßig sind, erbracht werden sollen. Über die Notwendigkeit entscheidet der Arzt.
In der Vergangenheit haben die Vertragsärzte sich mehrheitlich aus ethischen Gründen bemüht, das medizinisch Beste für ihre Patienten zu leisten. Jetzt werden sie gezwungen zu entscheiden, aus finanziellen Gründen und aus Protest gegen Staatsmedizin nur notwendige und zweckmäßige Medizin einzusetzen. Vertragsärzte müssen also lernen, zwischen optimaler und Basis-Medizin zu unterscheiden. Für GKV-Patienten bedeutet das: GKV-Patienten erhalten nur diejenigen Leistungen und diese in dem Umfang, in dem beide von den Krankenkassen über die KVen bezahlt werden. Das kann konkret bedeuten:
Patienten müssen erfahren, dass Ärzte wegen der nicht kostendeckenden Vergütung nur vertraglich Vereinbartes erbringen und nicht mehr das ethisch Wünschenswerte. Dieses läuft auf eine „Leistungserbringung nach Bezahlung“ hinaus, wie sie in der Wirtschaft üblich ist. Erst wenn die Patienten spüren, dass Ärzte nur das vertraglich Notwendige leisten, werden sie sich bequemen umzudenken, mehr Eigenverantwortung zu übernehmen und ein privatisiertes Gesundheitssystem mitzutragen.
Ärzte im Krankenhaus als Vorbilder
Der Streik der Universitäts-Ärzte Anfang 2006 hat gezeigt, dass auch Gehaltsforderungen von 30 % zum Erfolg führen, wenn deren Notwendigkeit belegt wird. Auch die Ärzte in den öffentlichen Krankenhäusern streiken jetzt mit ähnlich hohen Gehaltsforderungen, von denen die Krankenhäuser und die Gesundheitspolitiker sagen, sie könnten sie nicht bezahlen. Dabei bewegen sich die Gehälter der Krankenhausärzte in Deutschland weit unter denjenigen vergleichbarer Länder9). Warum sollten die Krankenhausärzte auch ein marodes Krankenhaussystem durch Verzicht auf angemessene Gehälter unterstützen?
Auch wir Niedergelassene müssen die etwa 35 % Unterbezahlung im GKV-System, wie sie durch den EBM 2000plus + Inflationsrate betriebswirtschaftlich belegt wurde, nicht länger hinnehmen. Wir müssen sie einfordern, wie es die „Allianz Deutscher Ärzteverbände“ tut, oder wir müssen die Leistungen entsprechend kürzen. Die Ärzte-Proteste auf der Straße waren gut und richtig; jetzt müssen wir auch in den Praxen „protestieren“ und den Bürgern klar machen: Die GKV-Leistungen bisherigen Ausmaßes gehen zu Lasten der Ärzte und der Privatpatienten. Neue Leistungen wie Akupunktur usw. gehen ebenfalls zu Lasten Dritter (Ärzte, Privatpatienten). Nicht zuletzt belastet ein Teil der GKV-Leistungen künftige Generationen, z. B. bei der Krankenversicherung der Rentner. Da die GKV schon jetzt hoch verschuldet ist, wird sie Honorarforderungen der Vertragsärzte nicht bedienen können. Deshalb sollten wir unsere Leistungen auf das Notwendige und Zweckmäßige reduzieren
Nachhaltigkeit
Kürzlich haben 36 Bundestagsabgeordnete eine Gesetzesvorlage initiiert, die die Nachhaltigkeit in unserer Verfassung festschreiben soll10). Wir Ärzte sollten diese Bemühungen unterstützen: Die Nachhaltigkeit muss auch im Gesundheitswesen als Grundprinzip verankert werden.
Schlussfolgerungen
Wenn wir Ärzte nicht Handlanger der KVen und des Staates in einem System der Mangelverwaltung bleiben wollen, müssen wir den Weg in die Freiberuflichkeit konsequent gehen. Die Europäische Union sieht alle niedergelassenen Ärzte als Unternehmer sprich Freiberufler an, weil sie etwas „am Markt bewegen“. Der Status eines Vertragsarztes, der als Mitglied eines halb-staatlichen Monopols wie der KV vom Wettbewerb ausgeschlossen ist, ist mit den Zielen der Europäischen Union (freier Dienstleistungsverkehr usw.) nicht vereinbar.
Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt träumt nach wie vor von einer Staatsmedizin, wie sie von kommunistischen und sozialistischen Regierungen immer wieder propagiert wurde ohne Erfolg. Alle "Eckpunkte zur Gesundheitsreform 2006" laufen auf Staatsmedizin hinaus. Auch wenn Ulla Schmidt kürzlich ihre kommunistischen Aktivitäten als zu verzeihende Jugendsünde hinstellte11), wurde sie trotzdem mit Eintritt in die SPD 1983 nicht vom Saulus zum Paulus, denn noch 2003 plädierte sie für die Abschaffung des freiberuflichen Status der Ärzte12).
Wer von den Ärzten Staatsmedizin à la Ulla Schmidt haben will, möge seine Rechte in der Demokratie wahrnehmen und die entsprechende politische Gruppierung wählen. Wer aber ein europa-orientiertes Gesundheitssystem anstrebt, der sollte sich seinen Patienten gegenüber wie ein Freiberufler verhalten und offen dazu stehen, dass er keine „Leistungen in roten Zahlen“13) erbringen muss.
Unser Grundgesetz und die beschlossene Europäische Verfassung fordern die Mündigkeit jedes Bürgers. Dieses Recht beinhaltet auch die Pflicht zur Eigenverantwortung. Die Mündigkeit des Bürgers steht im Gegensatz zu einer Staatsmedizin, mag diese auch aus altruistischen Gründen als erstrebenswert angesehen werden. Der Mensch ist primär für sich selbst verantwortlich; der Staat und die Europäische Union sollten nur den Rahmen für das Zusammenleben der Menschen geben.
Wenn wir Ärzte jetzt den Bürgern und Patienten klar machen, dass Leistungen Geld kosten und dass Leistungen, wenn sie nicht bezahlt werden, eingeschränkt werden, dann werden die Bürger eher einsehen, dass der Staat nur eine gewisse Basisversorgung vorhalten lassen kann, wie es das Europäische Parlament beschlossen hat. Alle Zusatzversicherungen fallen dann in den Privatbereich. Erst dieses Umdenken bei den Bürgern macht dann eine neue Bundestagswahl sinnvoll, da eine Privatisierung des Gesundheitssystems eine Mehrheit im Bundestag voraussetzt. Die Ärzte haben es jetzt in der Hand, für das Umdenken bei der Bevölkerung zu sorgen. In diesem Sinne haben wir auch die Chance, das neue Gesundheitssystem für Deutschland mitzubestimmen.
In den vergangenen Monaten haben wir auf der Straße protestiert jetzt müssen wir in unseren Praxen protestieren. Protestieren heißt „öffentlich bezeugen“. Die Öffentlichkeit sind die Bürger, unsere Patienten. Protestieren wir in unseren Praxen und in der Öffentlichkeit für ein Gesundheitssystem, das dem Bürger seine Würde, seine Verantwortung und seine Freiheit belässt, wie es das Grundgesetz und die Menschenrechte fordern.
-------------------------
Literatur
1) Eckpunkte zur Gesundheitsreform 2006 http://www.die-gesundheitsreform.de/gesundheitspolitik/gesundheitsreform_2006/index.html?param=st
2) Ausschuss für Gesundheitsökonomie im Verein für Socialpolitik. Gesundheitspolitik in der Kompromissfalle: Kein Problem gelöst, aber neue geschaffen. Gesundheitsökonomen nehmen Stellung zu den "Eckpunkten zu einer Gesundheitsreform" der Koalitionsparteien vom 4. Juli 2006
http://www.arzt-in-europa.de/pages/2006VSP_Eckpunkte.html
3) Kollektiv verantwortungslos. Experten fordern seit Jahren eine Reform für mehr Wettbewerb und Transparenz. Der Spiegel 27/2006, 18-29. http://www.arzt-in-europa.de/
4) Nichts bliebe so, wie es heute ist. Blaupause oder Modell ohne Wert - die niederländische Reform. http://www.arzt-in-europa.de/pages/2006GN_Niederlande.html
5) Hovermann, Eike. Lösungsperspektiven: Grund- und Zusatzleistungen. Neue Perspektive - auch in der SPD. http://www.arzt-in-europa.de/pages/2006EH_Loesungsperspektive.html
6) EU-Parlament beschließt einheitliche Basisversicherung
http://www.arzt-in-europa.de/pages/2001JB_Basisversicherung.htm
7) EBM 2000 plus http://www.kbv.de/ebm2000plus/EBMGesamt.htm
8) Brökelmann, Jost. Praxiskosten der Operationen nach der Op-Blockierungszeit-Methode
http://www.mao-bao.de/artikel/2005JB_Praxiskosten.htm
9) „Wir verdienen nicht genug!". Die deutschen Ärzte streiken zu Recht. DER SPIEGEL 21/2006, 30. http://www.arzt-in-europa.de
10) Neues Staatsziel: Schutz künftiger Generationen. BAO-MAO-Aktuell; Nr. 31/06, vom 26. Juli 2006 http://www.mao-bao.de/archiv.html
11) Emundts, Corinna. Ulla und die Kommunisten, Der tiefrote Fleck in der Biographie der Bundesgesundheitsministerin. http://www.arzt-in-europa.de/pages/2006CE_UllaSchmidt.html
12) Sodan, Helge. Rückbesinnung auf das durch die Verfassung geschützte Grundrecht der Berufsfreiheit. Ulla Schmidt: Endlich Schluss mit der Ideologie der Freiberuflichkeit. http://www.arzt-in-europa.de/pages/2006HS_Berufsfreiheit.html
13) Hagedorn, Manfred. Keine Leistungen in roten Zahlen!
http://www.arzt-in-europa.de/pages/2000MH_RoteZahlen.htm