Der niedergelassene Arzt ist Helfer und Unternehmer

Die Europäische Union ist wegweisend, nicht deutsche Staatsmedizin

2006 +++ Jost Brökelmann +++ Quelle: ambulant operieren 4/2006, 179-181

Am 23.10.2006 hat der Arzt und Jurist Rainer Erlinger in der Süddeutschen Zeitung unter dem Titel Unärztliche Käuflichkeit geschrieben: "Die Gesellschaft kann sich nicht entscheiden, welche Funktion der Arzt haben soll, Priester oder Unternehmer, doch sie muss es. Beides zugleich geht nicht, und solange dieser Konflikt nicht gelöst oder wenigstens bewusst einbezogen wird, bleiben alle Reformbemühungen im Gesundheitswesen zum Scheitern verurteilt."

Die deutsche Gesellschaft muss sich nicht mehr zwischen Priester und Unternehmer entscheiden, denn dieses Problem ist bereits gelöst: Der Arzt ist nicht Priester, er ist aber  Helfer und - als niedergelassener Arzt - Unternehmer. So steht es im § 1 der Berufsordnung der deutschen Ärzte:

"Aufgaben des Arztes: Der Arzt dient der Gesundheit des einzelnen Menschen und der Bevölkerung. Der ärztliche Beruf ist kein Gewerbe. Er ist seiner Natur nach ein freier Beruf."

In dieser Berufsordnung der Ärzte ist also schon seit langem festgelegt, dass der Arzt a) den Menschen dient bzw. ihnen hilft und b), dass er dieses Helfen im Rahmen eines „freien“ Berufes ausübt. Zum Verständnis mögen folgende Erläuterungen dienen:

1. Der Arzt als Helfer

"Der Arzt dient ... " klingt etwas altmodisch, da es an einen Diener im Sinne von Untertan erinnern mag. Das Stammwort "dienen" ist uns allen aber von dem Wort Dienstleistungen her geläufig: Es spiegelt den Grund wieder, weshalb ein Großteil der Ärzte diesen Beruf ergreift – sie wollen nämlich helfen. Dieses "Helfersyndrom" kennzeichnet die Funktion des Arztes und ist eine Form des Altruismus.

Altruismus ist nun ein uraltes Phänomen des Menschen. Schon vor 1,8 Millionen Jahren gab es Menschen, die zahnlos überleben konnten, weil ihnen andere Menschen geholfen haben [1] . Dieser Altruismus hatte nichts mit den Religionen dieser Welt zu tun, denn diese entstanden erst 1,7 Millionen Jahre später. Es gab also schon immer gute und böse Menschen und solche, die Mitmenschen halfen.

Der Arzt bietet den Menschen seine Hilfe an und tut dies in der Regel gegen Entgelt. Damit erfüllt er eine Dienstleistung. Sie kann mehr technischer Natur sein wie z. B. eine Operation, sie kann aber auch geistig sein im Sinne von Rat in Sachen Lebensführung und sozialen Problemen.

Um Hilfe geben zu können, müssen die Probleme des Menschen erkannt werden. Zu dieser Problemlösung ist, besonders beim Arzt, Einfühlungsvermögen und Empathie notwendig; beide sind Teil der Dienstleistung. Beide – Empathie und Hilfe – sind Grundlage dafür, wie Patienten den Arzt einschätzen, als gut oder nur als "Mediziner".

Da die Probleme der Menschen, die zum Arzt gehen, sehr privater Natur sind, entsteht ein persönliches Arzt-Patienten-Verhältnis, das in sich schon eine Wirkungskraft entfalten kann. Dieses Arzt-Patienten-Verhältnis sollte aber nicht mit demjenigen zwischen Menschen und Priestern verglichen werden, denn Ärzte sind keine Vertreter einer Religion.

2. Der Arzt als Unternehmer

Die Berufsordnung der Ärzte sieht vor, dass der Arzt seinen Beruf frei ausüben soll. Im niedergelassenen Bereich tut er dieses als Freiberufler. Dieses entspricht in der EU-Charta [2] und in der EU-Verfassung [3] dem Begriff des Unternehmers, "weil dieser etwas am Markt bewirkt". Die EU kennt den Begriff des Freiberuflers nicht, besonders nicht in dem Sinne, dass – im Gegensatz zu den Gewerbetreibenden - diese Unternehmer sich in besonderer Weise für das Gemeinwohl einsetzen. Der Unternehmerbegriff in Europa ist also unabhängig von dem sozialen Engagement der einzelnen Unternehmer.

Für Deutschland gilt, dass wir uns an den in Europa geläufigen Begriff des Unternehmers anpassen müssen. Nach Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) ist der Arzt ein Unternehmer [4] . Dieses muss die deutsche Gesellschaft akzeptieren.

Das deutsche Steuerrecht unterscheidet zwischen Gewerbetreibenden und Freiberuflern, wie dies auch in der Berufsordnung der Ärzte geschieht. Freiberufler sind von der Umsatzsteuer befreit. Ob dieses angesichts der europäischen Vorgaben auf Dauer beibehalten werden kann, bleibt zu überprüfen.

Zusammengefasst kann man sagen: Der Arzt ist als Helfer tätig, nicht als Priester. Sein Engagement in der persönlichen Hilfe für die Menschen ist eine Dienstleistung. Gleichzeitig ist der Arzt nach der europäischen Rechtssprechung Unternehmer mit allen Rechten und Pflichten eines europäischen Unternehmers.

3. Der Arzt als "Halb-Gott in Weiß"

Diese Bezeichnung wird oft gewählt, um die "priesterähnlichen“ Aufgaben der Ärzte zu begründen. Der Ausdruck manifestiert sich besonders in Gestalt des Chefarztes. Dazu muss man wissen, dass die Position des  Chefarztes aus dem 19. Jahrhundert stammt, als in Berlin das hierarchische System der preußischen Militärakademie auf die Humboldt–Universität und von dort auf die Universitäten und Krankenhäuser in Deutschland sich ausbreitete [5] .

Das Chefarzt-System ist ein Organisationsprinzip, das damals für eine staatliche Medizin geeignet war. Heute muss seine Eignung aus Effizienz- und Wirtschaftlichkeitsgründen hinterfragt werden; denn viele der Krankenhausleistungen können aus betriebswirtschaftlicher Sicht nicht mehr mit den Leistungen der Niedergelassenen konkurrieren.

So zeigten schon 1999 Eichhorn und Eversmeyer [6] anhand von totalen Fallkosten, dass die gleichen Operationsleistungen bei stationärer Erbringung im Krankenhaus teurer kamen als im niedergelassenen Bereich. In letzterem ist die Teamorganisation verbreitet, die offenbar kosteneffizienter ist. Da in anderen industrialisierten Ländern die Operationen schon weitgehend (über 80 %) ambulant erfolgen, nur in Deutschland erst zu 37 % ( [7] ), ist es nur eine Frage der Zeit, dass auch in Deutschland die Operationen in kleineren Operationseinheiten ohne Chefarzt durchgeführt werden. Damit wird sich das Thema "Halb-Gott in Weiß" erledigt haben.

Zwischenfazit:

Die ärztliche Hilfe ist im Grunde genommen ein Dienstleistungsangebot wie jedes andere. Sie hat insofern etwas besonderes, als die Ärzte sich um ganz persönliche Anliegen der einzelnen Menschen kümmern. Diese Probleme sind durch die Schweigepflicht geschützt, so dass es überhaupt erst zu einem besonderen Arzt-Patienten-Verhältnis kommen kann.

Problem der Akzeptanz von europäischen Vorgaben

Viele Ärzte, Krankenkassenvertreter, Politiker und Universitätsleute in Deutschland haben noch nicht begriffen, dass sie europäische Realitäten akzeptieren müssen.

Die Europäische Union (EU) baut u. a. auf der Dienstleistungsfreiheit auf, einer der vier Grundfreiheiten der Europäischen Union. Deutschland als Gründungsmitglied der Union muss auch EU-Recht akzeptieren und kann nicht sein eigenes nationales Süppchen kochen wollen. Deshalb sollten insbesondere folgende gesellschaftliche Gruppierungen umdenken:

Ärzte

In Europa sind niedergelassene Ärzte Dienstleister und Unternehmer und nicht mehr "staatstragende" Freiberufler oder Beamte. Dieses war in der Vergangenheit anders. Als sich die sog. moderne Medizin im 19. Jahrhundert entwickelte, begriffen die Ärzte sich als Beamte des Staates [8] , auch wenn sie nicht offiziell als Beamte bestallt wurden. Sie setzten sich für das Wohl des Staates und der Allgemeinheit ein. Dieser Staat war ein Obrigkeitsstaat und wurde repräsentiert durch den Kaiser. Dieses mag erklären, warum die Ärzte damals gute Staatsdiener sein wollten. Im heutigen Europa sind die Ärzte jedoch nicht mehr als Staatsdiener, sondern als Dienstleister gefragt. Darüber müssen sich die Ärzte klar werden.

Universitäten

Die Universitäten bilden zwar die Mediziner aus, sie bilden sie aber in keiner Weise für die Aufgaben als Unternehmer aus. Deshalb wäre es dringend geboten, dass Ärzte während ihrer Ausbildung auch Betriebswirtschaft lernen [9] .

Ärztliche Organisationen

Die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) und Ärztekammern, auch Selbstverwaltungsorgane genannt,  sind Behörden des Staates und sind deshalb nicht unabhängig in ihren Aktionen. Sie können schwerlich etwas gegen den Staat, ihren Dienstherren unternehmen. Auf der anderen Seite wurden Ärztekammern vom Europäischen Gerichtshof schon als Unternehmer eingestuft. Beide Organisationen, insbesondere die Kassenärztlichen Vereinigungen, müssen ihren Status als Selbstverwaltungsorgan, d. h. Behörden überdenken; denn europäisches Recht kennt nur Staatsorgane oder Unternehmer, nicht Selbstverwaltungsorgane.

Staat

Die jetzige Große Koalition hat soeben das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) in den Bundestag eingebracht und allein mit dem Gesetzesentwurf schon bewiesen, dass sie EU-Recht nicht akzeptieren will:

  1. Das GKV-WSG verstößt gegen EU-Recht, weil es den Ärzten die Unternehmerfreiheiten nimmt: Es diktiert z. B. Preise und gibt Behandlungsbedingungen vor. So sind die niedergelassenen Ärzte gezwungen, zu Preisen 30 % unter Kostendeckung (definiert im EBM 2000plus) zu arbeiten und dieses zu den gleichen Bedingungen, die sie Privatversicherten oder Selbstzahlern gewähren.
  2. Das GKV-WSG verstößt gegen europäische Wettbewerbsregeln, indem es private Krankenversicherungen per Gesetz zwingt, einen Basistarif auf eigene Kosten zu finanzieren.
  3. Das GKV-WSG nimmt den Krankenkassenverbänden die Freiheit der Preisgestaltung, da die Preise von einer Bundesbehörde vorgegeben werden. Auch wenn die Krankenkassen Zwitter sind - indem sie einmal als Selbstverwaltungsorgane wie eine staatliche Behörde fungieren, zum anderen aber den Wettbewerb unter sich fördern sollen –, dürfte am Ende das europäische Wettbewerbsrecht stärker sein.

Das Gesundheitsstrukturgesetz stellt also einen Verstoß gegen Grundfreiheiten der Europäischen Union, besonders die Dienstleistungsfreiheit dar. Es ist ein Versuch der jetzigen Regierung, das Gesundheitswesen zu "nationalisieren" und aus dem europäischen Dienstleistungsmarkt herauszulösen. Damit ist das Gesetz europafeindlich und ein Schritt in die falsche Richtung.

Fazit

Auf formaler Ebene ist die von Erlinger aufgeworfene Definitionsfrage mit dem Hinweis auf die Berufsordnung und auf europäische Vorgaben beantwortet. Andererseits ist es im Rahmen der gegenwärtigen Reformen für Ärzte wichtig, die Grundlagen ihrer ärztlichen Tätigkeit zu überdenken. Hierzu hilft ein nüchterner Blick nach Europa.


Literaturhinweise:

[1] Franz , Angelika. Zahnlos in der Steinzeit. Paläontologen entdecken den ersten Beweis von Nächstenliebe. DIE ZEIT Nr. 16, 14. April 2005, 37

[2] Artikel 16 Unternehmerische Freiheit: Die unternehmerische Freiheit wird nach dem Gemeinschaftsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten anerkannt. http://www.arzt-in-europa.de/ (--> EU-Dokumente)

[3] ARTIKEL II-76 Unternehmerische Freiheit: Die unternehmerische Freiheit wird nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten anerkannt. http://ue.eu.int/igcpdf/de/04/cg00/cg00087.de04.pdf

[4] Euro-Richter: Niedergelassene Ärzte sind Unternehmer, EuGH, Az.: C-180/98 bis C-184/98 http://www.arzt-in-europa.de/pages/1998JB_Unternehmer.htm

[5] Brökelmann, J. Wir deutschen Ärzte müssen uns vom Staat emanzipieren. http://www.arzt-in-europa.de/pages/2000JB_Emanzipation.htm

[6] Eichhorn, S. und Eversmeyer 1999: Evaluierung endoskopischer Operationsverfahren im Krankenhaus und in der Praxis aus Sicht der Medizin, des Patienten und der Ökonomie. Thieme 1999

[7] Brökelmann, J., J. Reydelet. Zahl der Operationen in Deutschland 2003 – eine Annäherung, ambulant operieren 2/2005, 95-102 (http://www.mao-bao.de/artikel/2005JB_ZahlOperationen.htm)

[9] Brökelmann, J. Thesen zu einer Europa-tauglichen Ausbildung deutscher Ärzte. Med Ausbild 2004;21: 39-41 (http://www.arzt-in-europa.de/pages/2004JB_Thesen.html)

[10] Brökelmann, J. Ärzte müssen ihre Freiberuflichkeit verteidigen. BAO-MAO-Aktuell-Extra vom 31.10.2006 http://www.arzt-in-europa.de/pages/2006JB_GRG-Kritik.html

[11] Brökelmann, J. Ärzte müssen ihre Freiberuflichkeit verteidigen. BAO-MAO-Aktuell-Extra vom 31.10.2006 http://www.arzt-in-europa.de/pages/2006JB_GRG-Kritik.html