Ist die Ärzteschaft reformfähig? Verfassungsrechtler rät Ärzten, Unternehmer zu werden

Historisch bedingt sind Ärzte und ihre Standesorgane staatsgebunden. Nur Wettbewerb bringt Bewegung in die erstarrten Formen

2010 +++ Jost Brökelmann +++ Quelle: BAO-Depesche 21, November 2010, 6-8

In seinem Aufsatz „Das Berufsbild des Arztes zwischen Ethos, Spardiktat und Schönheitsideal“  beschrieb Ferdinand Kirchhof [1] , ehemals Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, einen durch Gesetze und Regeln stark eingeschränkten Arztberuf, der nur noch wenig mit einem freien Beruf zu tun habe. Kirchhof sprach von „zahlreichen Vergütungsregeln für Vertragsärzte, die mittlerweile ein undurchschaubares System bilden, das von viel zu vielen Akteuren beeinflusst wird und zum Teil nicht einmal mehr die Kosten deckt“.

Als Ausweg aus der Situation sah er - so wörtlich - „Ärzte als Anbieter und die Kassen als Nachfrager in einen realen Markt zu stellen“ und forderte weiter „Krankenkassen und Ärzteverbände [sollen] ihre Leistungen in Verträgen frei vereinbaren“. Auch die Konsequenzen machte er deutlich: „Dieser Weg führt weg vom Vertragsarzt, der in beamtenähnlicher Bindung die gesamten Gesundheitsleistungen gegen eine nach sehr heterogenen Faktoren berechnete Gesamtvergütung erbringen muss, die mittlerweile die meisten als ungerecht empfinden. Er führt hin zum Arzt, der im freien Spiel der Marktkräfte tätig wird, sich daher aber als Unternehmer auch dem Marktrisiko zu stellen hat.“

Kirchhof unterteilte die Tätigkeiten der Ärzte zum einen in die ärztliche Tätigkeit zur Heilung von Krankheiten bei entsprechender Diagnose und Indikation sowie zum anderen in ärztliches Handeln zur "Verbesserung" des Menschen und seiner Lebensmöglichkeiten. Letztere Tätigkeiten  bezeichnete Kirchhof als „Enhancement-Medizin“.

Insbesondere bei der „Enhancement-Medizin“ werde der Arzt zum reinen Dienstleister bzw. Unternehmer. Gleichzeitig werde der für die kurative Medizin geltende Dienstvertrag zum Werkvertrag.

Als einzigen Ausweg aus der misslichen Lage der Vertragsärzte nannte der Verfassungsrechtler den Weg in den freien Markt und schlug Verhandlungen zwischen Krankenkassen und Ärzten vor, ohne eine mögliche Zwischenschaltung der Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) zu erwähnen. Diesen weitreichenden Vorschlag für eine Änderung der berufspolitischen Ausrichtung der Ärzteschaft publizierte  er im Rheinischen Ärzteblatt, dem offiziellen Mitteilungsblatt der Ärztekammer Nordrhein. Deren Präsident ist Prof. Dr. Jörg-Dietrich Hoppe, der Präsident der Bundesärztekammer (BÄK). Der Artikel ist seither im Internet abrufbar [2] .

Was folgte auf diesen Aufruf des bekannten Verfassungsrechtlers?

Erstaunlicherweise passierte auf diesen Aufruf Kirchhofs gar nichts. Eine einzige Leserzuschrift [3] kritisierte, dass Fortpflanzungsmedizin nicht zur „Enhancement-Medizin“ gehöre. BÄK-Präsident Hoppe schwieg. Der Vize-Präsident der BÄK, Dr. Frank Ulrich Montgomery, sprach sich zur gleichen Zeit für bundesweit einheitliche Arzt-Tarife aus [4] . Diese Forderung ist genau das Gegenteil der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH), die Wettbewerb in Europa bis hin zur Abschaffung von Gebührenordnungen fordert.

Der Arzt als Unternehmer

Der Vorschlag Kirchhofs, der Arzt solle Unternehmer werden, ist nicht neu. Schon 1998 hat der EuGH geurteilt, dass der Arzt in Europa Unternehmer sei [5] . Dieses wurde auch in Deutschland veröffentlicht [6] .  Trotzdem verharrt die Mehrheit der Ärzte in ihrer beamtenähnlichen, staatsabhängigen Stellung und äußert sich nicht.

Stattdessen fordern Ärztevertreter, mehr Geld ins Gesundheitssystem zu pumpen.  Präsident und Vizepräsident der BÄK negieren EU-Vorgaben ebenso wie den Rat eines Verfassungsrechtlers und halten am altem System fest. Ähnlich verhält sich aus verständlichen Gründen auch die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), denn sie hat noch eine gewisse Monopolstellung gegenüber den Krankenkassen und kann den freien Wettbewerb der niedergelassenen Ärzte aus Eigeninteresse nicht unterstützen.

Warum sind Ärzte so reformresistent?

Diese konservative Haltung der Ärzte lässt sich, wenigstens zum Teil,  aus der Geschichte der Ärzteschaft erklären. Im 19. Jahrhundert hatten die Ärzte ihren Beruf überwiegend als gesellschafts-, wenn nicht als staatstragende Aufgabe angesehen. So schrieb Friedrich Nasse im Jahre 1823: "Wer für den Zweck des Staates ein Amt führt, ist dem Wesen der Sache nach Staatsbeamter [...] So ist denn auch der Arzt infolge seines Berufszwecks Staatsbeamter, Staatsdiener".

Anfang des 20. Jahrhunderts handelten Ärzte als „Freiberufler" Einzelverträge mit Krankenkassen aus. Um eine bessere Verhandlungsmacht aufzubauen, gründeten sie eine Ärztegewerkschaft, den Hartmannbund. Als Reaktion auf diese Entwicklung richteten sich Krankenkassen eigene Ambulatorien ein. 1924 wurde ein langer Ärztestreik durch eine staatliche Notverordnung beendet. Ebenfalls durch Notverordnung wurde 1931 der erste Kollektiv-Vertrag der KVen als Selbstverwaltungsorgane abgeschlossen. 1933 folgte die „Gleichschaltung“ der KVen, die zu einer Staatsbehörde wurden. 1949 wurden sie wieder als Selbstverwaltungsorgane, also halb-staatliche Behörden zugelassen.

In den folgenden Jahren wurde viel darüber diskutiert, ob die Kassenärzte wegen ihrer Einbindung in ein halb-staatliches Selbstverwaltungsorgan das Streikrecht noch behalten oder sich einer Zwangsschlichtung unterwerfen sollten. 1952 entschieden sich die Ärzte auf einem außerordentlichen Deutschen Ärztetag mit 79 zu 62 Stimmen für eine Zwangsschlichtung und gegen die Beibehaltung des Streikrechts. Daraufhin wurde 1955 das Gesetz über das Kassenarztrecht verabschiedet, das noch heute gilt. Es brachte den KVen das Monopol in Form des Sicherstellungsauftrages, gleichzeitig verloren die Kassenärzte das Streikrecht.

Staatliche Aufsicht anstelle des freien Marktes

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind zirka 90 Prozent der Bevölkerung in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Dort unterliegen sie nicht dem freien Markt, sondern staatlicher Aufsicht. Nur 10 Prozent der Bevölkerung sind privatversichert. Heute nennt man die für die GKV arbeitenden Ärzte Vertragsärzte oder Leistungserbringer, früher hießen sie Kassenärzte. Ein Antrag auf Kassenzulassung muss bei der jeweiligen KV-Behörde schriftlich gestellt werden. Anders als in der freien Wirtschaft üblich, erhalten Vertragsärzte keinen schriftlichen Vertrag, in dem Rechte und Pflichten beider Seiten festgelegt sind.

Daraus ergibt sich folgende Definition eines Vertragsarztes an: Ein Vertragsarzt ist ein dem halb-staatlichen GKV-System verpflichteter, in seinen Handlungsfreiheiten stark eingeschränkter, niedergelassener Arzt, der lediglich steuerlich als Freiberufler eingestuft wird. Die Staatsbindung besteht seit 1924, ideell schon seit dem 19. Jahrhundert.

Warum lassen sich Ärzte vom Staat einspannen?

Finanzielle Gründe
Es waren wohl überwiegend finanzielle Gründe, die im 20. Jahrhundert die Ärzte die Nähe zum Staat suchen ließen. So herrschte 1924 wegen der Inflation große Not, und 1931 bestand auch unter Ärzten eine hohe Arbeitslosigkeit. 1949 wollte man vermutlich am Bewährten festhalten, außerdem lockte eine Gebührenordnung mit unbegrenzter Einzelleistungsvergütung. Letztere wurde über die Jahre zu teuer und führte 1993 zur staatlich verordneten Budgetierung der Leistungen.

Zwischen 1955 und 1993 konnten Vertragsärzte im GKV-System gut verdienen, mit gewissen Einschränkungen gilt dies noch heute. Da schmerzte es wenig, kein Streikrecht zu haben. Den Vertragsärzten ging es in ihren beamtenähnlichen Stellungen finanziell so gut, dass sie sich nicht in einen freien Wettbewerb stürzen wollten.

Defizite der Ausbildung
Neben finanziellen Gründen gibt es für Ärzte noch einen weiteren Grund, staatsgebunden zu bleiben: Es fehlt den Ärzten das Rüstzeug für den freien Wettbewerb: Während ihres Studiums haben sie nichts über Betriebswirtschaft, Praxismanagement oder medizinische Ökonomie gelernt – ein Wissen, das für die Führung von mittelständischen Unternehmen wie Praxen und Tageskliniken heutzutage erforderlich ist. In wirtschaftlicher Hinsicht ist jeder Handwerksmeister besser gerüstet als die Ärzte in Klinik und Praxis. Die zurückhaltende, fast lethargische Haltung der Ärzte in Bezug auf das Unternehmertum lässt sich somit auch auf Defizite ihrer Ausbildung zurückführen. Aus dieser Sackgasse kommen die Ärzte nur schwer heraus [7] .

Welche Auswege gibt es?

Es gibt zwei Lichtblicke: Zum einen bestehen mittlerweile seitens der Bundesregierung ernsthafte Bestrebungen, die Krankenkassen in den Wettbewerb zu entlassen. Die Monopolkommission der Bundesregierung [8] plädiert schon seit Längerem für  mehr Wettbewerb unter den Krankenkassen und will letztere als Unternehmen im europäischen Sinne eingestuft sehen. Diese Auffassung vertreten auch der amtierende Bundeswirtschaftsminister und das Bundeskartellamt. Ein entsprechendes Gesetz soll jetzt diese Umstellung bewerkstelligen.  Die Krankenkassen könnten dann als Unternehmen im freien Wettbewerb mit Ärzten Verträge außerhalb der KVen abschließen. Dieses stärkte dann die Stellung der Arzt-Unternehmer.

Der zweite Lichtblick kommt aus der Ärzteschaft: Es gibt eine wachsende Zahl von niedergelassenen Ärzten, die ihre Praxen – meist autodidaktisch - betriebwirtschaftlich organisieren und im Rahmen von Verträgen zur Integrierten Versorgung (IV) erfolgreich mit den Krankenkassen verhandeln. Auf diesem Wege erzielen sie günstigere Honorare als über die KVen. Diese Ärzte sind die Vorreiter der zukünftigen Arzt-Unternehmer-Generation.

Zusammenfassung

Die Ärzte im allgemeinen und insbesondere die niedergelassenen Ärzte sind aufgrund der Geschichte ihrer Standesorganisationen und einer fehlenden betriebswirtschaftlichen Ausbildung mehrheitlich noch nicht in der Lage, sich auf einem freien Gesundheitsmarkt zu behaupten. Sie und ihre Standesorgane (BÄK, KBV) sind staatsgebunden und wollen sich noch nicht einem freien Gesundheitsmarkt öffnen. Bewegung in die erstarrten Fronten könnte am ehesten durch eine Entlassung der Krankenkassen in den freien Wettbewerb kommen, dieses wiederum wäre Europa-konform. Außerdem wächst die Zahl der Ärzte, welche die Zeichen der Zeit erkannt haben und sich, meist autodidaktisch, betriebswirtschaftliche und Management-Kenntnisse angeeignet haben und bereits mit den Krankenkassen über IV-Verträge verhandeln.

Literatur


[1] Ferdinand Kirchhof. Das Berufsbild des Arztes zwischen Ethos, Spardiktat und Schönheitsideal“  Rheinisches Ärzteblatt Juli 2010, S. 12

[2] http://www.aekno.de/page.asp?pageId=8344&noredir=True

[3] Dirk Propping. Fortpflanzungsmedizin kein Instrument für Designer-Babies. Rheinisches Ärzteblatt 8/2010, 7

[4] Montgomery. Ärzte Zeitung online, 05.10.2010

[5] EuGH 1998: Niedergelassene Ärzte sind Unternehmer. Az.: C-180/98 bis C-184/98

[6] Brökelmann J. Stellung des niedergelassenen Arztes in Europa. Veränderte Situation nach der Wirtschafts- und Währungsunion. ambulant operieren 4/2001, 168-170. http://www.arzt-in-europa.de/pages/2001JB_Stellung.htm

[7] Brökelmann J. Wir deutschen Ärzte müssen uns vom Staat emanzipieren. ambulant operieren 3/2000, 137-138. http://www.arzt-in-europa.de/pages/2000JB_Emanzipation.htm

[8] Mehr Wettbewerb, wenig Ausnahmen. Achtzehntes Hauptgutachten der Monopolkommission gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 GWB – 2008/2009 – Kurzfassung

http://www.monopolkommission.de/haupt_18/pkurz_h18.pdf