Stellung des niedergelassenen Arztes in Europa

Veränderte Situation nach der Wirtschafts- und Währungsunion

2001 +++ Jost Brökelmann +++ Quelle: ambulant operieren 4/2001, 168-170

Ab dem 1. Januar 2001 wird es in Europa nur eine einzige Währung geben, den EURO. Damit haben wir zwar eine Währungsunion, aber noch keine Sozialunion, d.h. eine Koordination der Gesundheitssysteme. Nach wie vor sind die einzelnen nationalstaatlichen Sozialsysteme voneinander abgeschottet und stellen meist ein Spielfeld für nationale Machtkämpfe dar.

Die europäische Wirtschafts- und Währungsunion schafft jedoch Tatsachen, die auch auf die Sozialsysteme wirken (Oberender 2001). So hat z.B. der Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Sachen niedergelassene Ärzte einige Entscheidungen getroffen welche zukunftsweisende, d.h. Europa-orientierte Reformen in Deutschland zur Folge haben werden. Jede Reformbestrebung in Deutschland muss heute auf Europa-Tauglichkeit hin abgeklopft werden. Nur was Europa-orientiert ist, wird Bestand haben; denn Europa-Recht bricht Landesrecht.

Der Arzt als Unternehmer

Eine der wichtigsten europäischen Grundfreiheiten für niedergelassene Ärzte ist die Niederlassungsfreiheit. Deutsche Fachärzte können sich auch in Paris oder Rom niederlassen oder dort eine Zweigpraxis errichten. Nur dürfen sie das wegen des deutschen Berufsrechts nicht in Deutschland tun.

Der Europäische Gerichtshof hat im übrigen entschieden (EuGH 1998): "Die niedergelassenen Ärzte sind Unternehmer. Ihre Rentenfonds - das entspricht in Deutschland den Ärzteversorgungen - sind ebenfalls Unternehmen."

Nach europäischem Recht ist Unternehmen "alles, was etwas am Markt bewirkt". Das müssen nicht immer Gelder sein, das können ebenfalls auch Sachleistungen sein.

Das bekannte Rechtswörterbuch von Creifelds und Weber (2000) gibt eine Definition des Begriffs "Unternehmen". Danach umfassen "Unternehmen nach europäischem Kartellrecht ... alle wirtschaftlichen Betätigungen jeder Art, auch Sport, Medien, Kunst und freie Berufe". Unternehmen werden also dadurch definiert, dass sie etwas am Markt bewirken.

Die unternehmerische Freiheit hat jetzt in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union einen eigenen Artikel erhalten. Artikel 16 besagt: "Die unternehmerische Freiheit wird nach dem Gemeinschaftsrecht ...anerkannt". Dieser Artikel 16 gilt auch für die Vertragsärzte in Deutschland!

Das Rechtswörterbuch von Creifelds und Weber (2000) weist aber auch auf den großen Unterschied im Unternehmensbegriff in Deutschland und in Europa hin: "Der Begriff des kaufmännischen Unternehmens (in Deutschland) ist umstritten. Er setzt sich aus Sachen, Rechten und sonstigen Beziehungen zusammen. Das europäische Kartellrecht hat einen persönlich und sachlich völlig abweichenden Unternehmensbegriff."

Es ist also in der Rechtswissenschaft bekannt, dass es bezüglich des Kartellrechts große Unterschiede zwischen Europa und der nationalen Rechtsprechung in Deutschland gibt. Offenbar haben sich aber Juristen noch nicht an die Aufarbeitung dieses Problems herangewagt, weil dieses nämlich darauf hinausläuft, dass Organisationsstrukturen in Deutschland zwingend geändert werden müssen.

Nach EU-Recht sind in Deutschland folgende Berufe und Institutionen Unternehmen: Arztpraxen, Krankenkassen, Krankenhäuser, Berufsverbände, KVen, Heil- und Hilfsmittelhändler, Pharmaindustrie. Alle diese Gruppierungen unterliegen deshalb auch europäischem Kartellrecht. Dieses mussten jetzt die Krankenkassen spüren, weil ihnen vom Bundeskartellamt untersagt wurde, Festbeträge für Arzneimittel festzusetzen. Über die Zugehörigkeit der KVen zu den Unternehmen gibt es bislang noch keinen Gerichtsentscheid. Es ist jedoch offensichtlich, dass sie mit ihrer Geldverteilungsmaschinerie "etwas am Markt bewirken" und damit Unternehmen nach europäischem Kartellrecht sind.

Ärztliche Leistungen sind Dienstleistungen

Bezüglich der ärztlichen Leistungen hat der Europäische Gerichtshof kürzlich entschieden, dass ärztliche Leistungen Dienstleistungen sind unabhängig davon, ob sie im System der Kostenerstattung oder Sachleistung erbracht werden (EuGH 2001). Das heißt: Alle Leistungen, die im ambulanten Bereich und im Krankenhaus für GKV-Versicherte erbracht werden, sind Dienstleistungen. Für diese gilt der freie Dienstleistungsverkehr innerhalb von Europa. Für die ambulanten Dienstleistungen hatte das der EuGH in den Urteilen Kohll und Decker schon vor Jahren entschieden, dass nämlich Brillenkauf, Operationen usw. Dienstleistungen sind, die im gesamten Europa von den Bürgern in Anspruch genommen werden können und von ihren jeweiligen Versicherern bezahlt werden müssen. Der EuGH hat nun am 12.07.01 entschieden, dass dieses im Prinzip auch für Krankenhausleistungen zutrifft. Da verschiedene europäische Länder jedoch der Auffassung waren, dass ein freier Dienstleistungsverkehr von stationären Behandlungen die einzelnen Sozialsysteme zum Zusammenbruch bringen wird, hat der Europäische Gerichtshof vorübergehend ein Genehmigungsverfahren für stationäre Behandlungen im europäischen Ausland genehmigt. Er hat mit diesem Urteil jedoch noch einmal deutlich gemacht, dass der freie Dienstleistungsverkehr durch nationale Gesetze nicht eingeschränkt werden darf. Offensichtlich werden Prinzipien der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion langsam aber sicher die nationalen Sozialsysteme verändern.

Kartellrecht verbietet Preisfestsetzung

Im Vertrag von Amsterdam wurde in Artikel 81 jegliche Preisfestsetzung zwischen Unternehmen verboten: "Verboten sind alle Vereinbarungen zwischen Unternehmen ..., insbesondere a) die unmittelbare oder mittelbare Festsetzung der An- und Verkaufspreise oder sonstiger Geschäftsbedingungen ..."

Zum diesem Thema gibt es auch eine die Ärzte betreffende, europäische Kartellrechts-entscheidung: Ärzteverbände dürfen keine Preise für ärztliche Leistungen festsetzen, d.h. konkret, dass ein Ärzteverband wie der BAO keine bundesweiten Festpreise aushandeln darf. Ob KVen dieses dürfen, ist offenbar gerichtlich noch nicht geprüft worden. Es liegt jedoch nahe, dass eine Absprache zwischen KVen und Krankenkassen, die beide als Unternehmen eingestuft werden dürfen, gegen europäisches Kartellrecht verstößt, weil das Kartell feste Preise erzwingt und keinen Wettbewerb zuläßt. Unverfänglicher scheint deshalb eine Regelung zu sein, bei der eine amtliche Gebührenordnung wie die GOÄ ein Preisminimum vorgibt, das jedoch von dem einzelnen Arzt über einen Steigerungsfaktor individuell der Situation entsprechend gesteigert werden kann. Es scheint deshalb dringend geboten, die GOÄ dem internationalen Standard anzupassen und sie so flexibel zu halten, dass jeder Arzt auf Grund seiner lokalen Praxiskosten die Preise für seine Leistungen festsetzen kann.

Der europäische Bürger ist mündig

Die Stellung des Bürgers im neuen Europa ist eine andere als diejenige in Deutschland. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union sagt in Artikel 1: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen." Das heißt, dass alle Bürger die Würde des Menschen achten und schützen müssen. Der Schutz der Menschenrechte liegt in den Händen der Bürger.

Im Gegensatz dazu heißt es im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in Artikel 1: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt". In Deutschland ist es also Aufgabe der staatlichen Gewalt, die Menschenrechte zu schützen. Im neuen Europa liegt die Verantwortung hierfür bei den Bürgern. In Europa ist der Bürger mündig, in Deutschland wird er noch vom Staat bevormundet.

Was uns Ärzte betrifft, so müssen wir unser Tun und Handeln darauf aufbauen, dass die Patienten mündig sind und wir nur den Status eines Beraters haben. Freiheit und Macht des europäischen Bürgers bedeuten aber nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten. Zu den Pflichten gehört m.E. auch, dass die Bürger Verantwortung für ihre Gesundheit tragen und sich finanziell an den Kosten für Gesundheitsleistungen beteiligen.

Situation in Deutschland

Die Situation ist dadurch gekennzeichnet, dass wir eine gesetzliche Krankenversicherung (GKV) haben, die dezentrale Staatsgewalt darstellt. Die GKV wurde nach dem letzten Weltkrieg zum Kernstück des deutschen Sozialstaates ausgebaut. Sie basiert auf dem Sachleistungssystem. Es fragt sich, ob dieses deutsche staatliche Gesundheitssystem, das aus verfassungsrechtlicher Sicht in seinen Ausmaßen als grundgesetzwidrig angesehen wird (Sodan 1997), in einem zusammenwachsendem Europa eine Überlebenschance hat. Vieles spricht dafür, dass es ein Auslaufmodell ist, das für den Nationalstaat Deutschland gute Vorteile hatte, mit der zunehmenden Integration von Europa aber obsolet wird.

Für die niedergelassenen, d.h. freiberuflich tätigen Ärzte Deutschlands ist es bedrückend, dass das Bundessozialgericht sie kürzlich zu Dienern dieses veralteten GKV-Systems verpflichtet hat BSG 2001).

Es kommt hinzu, dass die deutschen Ärzte während ihrer Ausbildung nicht als Unternehmer ausgebildet wurden. Sie müssen dieses also irgendwie nachholen, um im neuen Europa als Unternehmer bestehen zu können.

Der Vergleich des deutschen Grundgesetzes mit den europäischen Grundrechten zeigt deutlich: Während das deutsche Grundgesetz auf den Staat baut, baut Europa auf den mündigen Bürger. Dieses spiegelt einen Wandel in der Denkweise der Bürger wider.

 

Fazit

Allem Anschein nach wird die europäische Wirtschafts- und Währungsunion eines Tages die europäische Sozialunion erzwingen; denn Europarecht bricht Landesrecht. Damit ist schon jetzt das Ende des deutschen Sozialstaates eingeleitet.

Was bleibt uns Ärzten zu tun? Wir müssen als Arzt und Unternehmer handeln. Auch wenn wir als Ärzte einigermaßen gut ausgebildet sind, sind unsere unternehmerischen Kenntnisse meistens sehr dürftig und nur autodidaktisch angelernt. Hier gilt es, den deutschen Ärzten Weiterbildungen anzubieten. Eine dieser Möglichkeiten stellt die Managementgesellschaft Ambulantes Operieren (MAO) des BAO dar, die ihre Aufgabe u.a. darin sieht, Praxisinhaber als Unternehmer weiterzubilden.

Für uns Ärzte wird sich an unserem Status als Unternehmer auch in einem liberalisierten Europa nicht sehr viel ändern; denn schon jetzt sind wir durch die Budgetierung de facto gezwungen, in unseren Praxen wirtschaftlich zu arbeiten. Dieses sparsame Wirtschaften wird für uns im europäischen Wettbewerb von Vorteil sein. Wir können dieses wirtschaftliche Arbeiten jedoch verbessern, indem wir die Kostendeckung der einzelnen Leistungen kalkulieren und Leistungen in roten Zahlen meiden. Wir müssen nicht jede Operation, ambulant durchführen, besonders wenn sie unter Kostendeckung bezahlt wird. Es gibt genügend Krankenhäuser, die sich freiwillig zum Ambulanten Operieren gemeldet haben.

Wir sollten Vorsicht walten lassen bei Preisabsprachen. Den früher gehegten Gedanken, wir könnten als Verband Komplexgebühren mit Krankenkassen aushandeln, sollten wir begraben, denn solches Vorgehen wird gegen europäisches Kartellrecht verstoßen.

Ganz wichtig ist, dass wir die Qualität unserer Leistungen und damit unsere Wettbewerbsfähigkeit verbessern. Patienten kommen zu uns wegen der Qualität unserer Leistungen, nicht wegen eines Werbespots. Die Qualität muss für Ärzte und Patienten transparent sein. Dazu müssen wir unsere postoperative Komplikationsraten veröffentlichen, nachdem unsere Patienten uns mitgeteilt haben, welche Komplikationen auftraten. Jede gute Qualitätskontrolle basiert u.a. auf Patientenfragebögen.

Nicht zuletzt müssen wir uns darauf einstellen, dass der Bürger mündig ist und dass er ein Recht auf Information hat und wir ihm über unsere medizinischen Leistungen nur Angebote machen können. Der Bürger muss dann selbst entscheiden, wie viele Gesundheitsleistungen er haben will und benötigt. Er muss durch eine entsprechende Eigenbeteiligung ein unmittelbares Interesse haben, Gesundheitskosten möglichst niedrig zu halten.

Den Gesundheitspolitikern kann man nur empfehlen, sich immer wieder zu fragen: Wie Europa-konform sind die geplanten gesundheitspolitischen Vorschläge? Werden bei den anstehenden Entscheidungen Grundrechte der EU-Bürger verletzt?

 

Literatur

Brökelmann, J.: Europaorientiertes Gesundheitssystem. Der deutsche Sozialstaat ist in einer Sackgasse.

gpk 9/2001,32-34

BSG 2001: Bundessozialgericht AZ: B6 KA 36/00 R, B6 KA 54/00 R

Creifelds, C., K. Weber: Rechtswörterbuch. 16. Auflage. Verlag C.H.Beck München 2000

EuGH 1998: Niedergelassene Ärzte sind Unternehmer. Az.: C-180/98 bis C-184/98

EuGH 2001: Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 12. Juli 2001

Oberender, P.: Das deutsche Gesundheitswesen im europäischen Wettbewerb

Quelle: RPG 7:3 (2001), 79-89

Sodan,H.: Freie Berufe als Leistungserbringer im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung. Mohr Siebeck 1997