Niedergelassene Ärzte müssen als Unternehmer handeln

Gedanken über eine zukünftige Politik des BAO

2008 +++ Jost Brökelmann +++ Quelle: ambulant operieren 1/2008, 41-44

In den letzten Wochen wird zunehmend die Systemfrage in Hinblick auf Aufgaben und Nutzen der Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) gestellt: „Das Kollektiv-Vertragssystem ist am Ende“ heißt es [1] , der bayerische Hausärzteverband will aus dem System aussteigen [2]   und auch erfahrene Systemanalysten nehmen zum Ausstieg aus dem KV-System Stellung [3] . Deshalb müssen auch wir uns fragen:  In welchem Rahmen werden Ärzte, besonders die Ambulanten Operateure und Anästhesisten,  in Zukunft in einem sich ändernden Gesundheitssystem arbeiten?

Folgende Faktoren werden mit großer Wahrscheinlichkeit die Zukunft des deutschen Gesundheitssystems bestimmen: Menschenrechte, Europa, deutsche Schuldenlast, Status der Selbstverwaltungsorgane (SVO) und Interessenvertretung der Ärzte.

Menschenrechte setzen sich durch
Die Präzisierung und Verbreitung der Menschenrechte haben zu einem neuen Wertesystem, das unabhängig von traditionellen Religionen ist, geführt. Die Menschenrechte stärken die Rechte des Individuums und damit auch den Individualismus. Langfristig gesehen dürften sie Ideologien, die das Gemeinwohl höher ansetzen als die Individualrechte, verdrängen.

Europa wird stärker
Europa steht ein für die Menschenrechte und die Grundfreiheiten, das sind Dienstleistungsfreiheit und freier Güter- und Warenaustausch. Während auf der einen Seite die Menschenrechte zu ihrer Verwirklichung eine Demokratie erfordern, verlangen die europäischen Grundfreiheiten ein Denken und Handeln nach Gesetzen der freien Marktwirtschaft, die nach dem Willen der europäischen Einzelstaaten auch sozial sein soll. In den vergangenen Jahren hat die Europäische Union ständig an Präsenz und Einfluss gewonnen. Bis zu 80 % der Gesetze der Einzelstaaten basieren auf Vorgaben der Europäischen Union. Die EU setzt also eindeutig die Rahmenbedingungen für die europäischen Einzelstaaten.

Das politische Gewicht der Nationalstaaten nimmt ab
Auch für Deutschland bedeutet das, dass es sich von einem Nationalstaat zu einem Umverteilungsstaat im Rahmen des föderativen Europas entwickeln wird.

Die deutsche Schuldenlast ist hoch
Die Nachhaltigkeitslücke, darunter sind die expliziten und impliziten Schulden Deutschlands zu verstehen, umfasste im Jahre 2005 fast das Dreifache (275,7%) eines Bruttoinlandsproduktes (BIP) [4] . Hiervon betrugen die impliziten Schulden, die in dem deutschen Sozialsystem entstanden sind, 77%. Sie haben sich im Laufe der letzten 30 Jahre hauptsächlich in den Sozialsystemen, und zwar durch das Umlageverfahren angesammelt. Diese Höhe der Schuldenlast setzt dem politischen Wirken Grenzen. Dem Schuldenberg muss der Staat durch ein striktes Haushaltsbudget besonders in den Sozialsystemen und damit auch dem Gesundheitssystem begegnen. Deutschland ändert sich damit von einem Wohlfahrtsstaat zu einem Gewährleistungsstaat [5] . Auch im Gesundheitswesen ist Sparen angesagt.

Europäische Vorgabe I: Basis-Krankenversicherung
Das EU-Parlament hat 2000 beschlossen, dass es in Europa eine einheitliche Basisversicherung und zusätzliche Krankenversicherungen geben soll (Protokoll vom 16.11.2000). Diese Vorgabe wurde 2007 von der deutschen Bundesregierung umgesetzt:

  1. Mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) wurde eine Basisversicherung (Grundversorgung, Basistarif) in der gesetzlichen und in der privaten Krankenversicherung beschlossen.
  2. Ausmaß und Qualität der Grundversorgung entsprechen in Deutschland der Gesetzlichen Krankenversicherung und unterscheiden sich zum Teil erheblich in den einzelnen europäischen Staaten. Wegen der bestehenden Schuldenlast und des Anstiegs der Kosten im Gesundheitswesen bleibt den Deutschen nur, entweder den Umfang der Gesetzlichen Krankenversorgung z. B. auf das europäische Mittelmaß zurückzufahren oder die Beiträge zur Krankenversicherung zu erhöhen.
  3. Zusatzversicherungen gelten für alles, was über die Basisversorgung hinausgeht; sie sind privat zu finanzierende Krankenversicherungen. Durch die Übernahme der Kosten der Zusatzversicherungen werden die Bürger stärker zur Mitverantwortung herangebezogen.

Europäische Vorgabe II: Die Europäische Union kennt nur Unternehmen und staatliche Institutionen
Deutsche KVen sind (noch) Selbstverwaltungsorgane und damit mittelbare Staatsverwaltung. Die europäischen Verträge kennen jedoch keine Selbstverwaltungsorgane, die „als mittelbare Staatsverwaltung öffentliche Verwaltungsaufgaben eigenverantwortlich übernehmen“ ( [6] ). Sobald deutsche Selbstverwaltungsorgane wie KVen oder Krankenkassen etwas „am Markt bewegen“, werden sie laut Europäischem Kartellrecht zu Unternehmen.

In anderen europäischen Ländern wie z. B. Frankreich gibt es keine KVen [7] . Dort handeln Ärzteverbände die Honorare direkt mit den Krankenkassen aus.

Folgerungen für das Verhältnis der niedergelassenen Ärzte zu den KVen
Da die Basisversorgung in Deutschland weiter verwaltet werden muss, werden die KVen von Staatswegen voraussichtlich zunächst nicht abgeschafft werden. Nur wird ihre Macht schwinden, denn das Geld für die Basisversorgung wird eher knapper werden. Die Kassenärzte können deshalb für ihre Tätigkeit in der Basisversorgung auch nur ein Basisgehalt erwarten.

Unter dem Druck des Europäischen Kartellrechts werden die deutschen KVen entweder zu unmittelbar staatlichen Behörden umgewandelt werden – wofür es bislang im Bundestag keine Mehrheit gab - oder sie werden dem Beispiel der Krankenkassen folgen, die voraussichtlich ab 2009 nach Einführung des (staatlichen) Gesundheitsfonds zu Unternehmen werden. Hier muss der Gesetzgeber (Bundestag) entscheiden, wie er die Basisversorgung gesichert haben will. Bei unserem Nachbarn Frankreich funktioniert die Basisversorgung auch ohne staatliche Behörden.

Heutige Interessenvertretung der Ärzteschaft
Bislang hat die deutsche Ärzteschaft die Kassenärztlichen Vereinigungen und Ärztekammern als ihre Interessenvertretungen angesehen. Beide Institutionen sind öffentlich-rechtlich. Jahrelang ging es gut, die Interessenvertretung von Freiberuflern (Unternehmern) einer halbstaatlichen Institution zu überlassen.  Seit einigen Jahren besteht das Bundesministerium für Gesundheit, die Aufsichtsbehörde der KVen, darauf, dass sich öffentlich-rechtliche Institutionen bei Interessenkonflikten dem Staat gegenüber loyal verhalten müssen. In solchen Fällen mussten die Ärztevertreter realisieren, dass sie unfrei waren. Dieses spricht für die Schaffung einer unabhängigen ärztlichen Interessenvertretung.

1978 hat es zwar einmal eine „Bundesvereinigung deutscher Ärzteverbände (BDÄ) e.V.“ gegeben, von der jedoch „eine nachhaltige Wirkung und politischer Einfluss letztlich nicht ausging“ [8] .

Neben der „Unfreiheit“ der niedergelassenen Ärzte gegenüber den KVen gibt es ein weiteres schwerwiegendes Argument für eine staats-unabhängige Ärztevertretung: Das Europäische Kartellrecht hat die Situation für Deutschland verändert. Die Zeiten des Korporatismus im Gesundheitswesen und der staatlich unterstützten Behörden-Monopole sind vorbei bzw. laufen aus, und Europäisches Kartellrecht wird große Teile des Gesundheitswesens beherrschen.

Künftige Aufgaben einer Interessenvertretung
Welche Aufgaben kann unter diesen Europa-dominierten Bedingungen eine Interessenvertretung von freien Arzt-Unternehmern übernehmen?

Interessen der niedergelassenen Ärzte

Speziell die Interessen der niedergelassenen Ärzte, die Freiberufler bzw. Arzt-Unternehmer sind,  könnten folgendermaßen definiert werden:
Niedergelassene Ärzte müssen finanziell so unabhängig sein, dass ihnen und ihrer Familie

Da die Einkünfte aus der Gesetzlichen Krankenversicherung häufig nicht kostendeckend waren, muss es das Ziel der niedergelassenen Ärzte sein, keine "Leistungen in roten Zahlen" zu erbringen, weder in der Basisversorgung noch in der Privaten Krankenversicherung. Dieses wird, bei knappen Kassen, nur durch besseres Praxismanagement, striktes sparsames Wirtschaften oder notfalls durch Unterlassen defizitärer Leistungen möglich sein. Zusätzlich muss nach neuen Einnahmequellen Ausschau gehalten werden.

Mögliche Wege aus der Krise

KVen als Behörden für die Basisversorgung akzeptieren

Zunächst müssen die Ärzte davon ausgehen, dass die KVen als Behörden zur Regulierung der Basisversorgung noch eine gewisse Weile existieren werden. Vieles spricht aber dafür, dass die Position der kassenärztlichen Selbstverwaltungsorgane (SVO) als mittelbare Staatsverwaltung überholt ist:

Bis zu einer Klarstellung des Status der KVen durch den Gesetzgeber können die niedergelassenen Ärzte, die nach europäischem Recht Unternehmer sind, mit den Kassenärztlichen Vereinigungen unter folgenden Bedingungen kooperieren:

  1. Die Kooperation wird auf eine gleichrangige und marktwirtschaftliche Basis gestellt.
  2. Der Leistungsumfang wird durch schriftliche Einzelverträge mit der jeweiligen KV festgelegt, statt aufgrund einer schwammigen „Zulassung“ zu unbegrenzten und z. T. nicht kostendeckend honorierten Leistungen gezwungen zu sein.
  3. Die Einzelverträge müssen eine Kündigung von beiden Seiten vorsehen.
  4. Die Einzelverträge müssen auf einer ähnlichen Basis abgeschlossen werden wie Verträge mit den Krankenkassen.
  5. Die Leistungsverträge müssen die Rechten und Pflichten beider Parteien festhalten.

Zwischenfazit: KVen, Krankenkassen und niedergelassene Ärzte werden in Zukunft als Unternehmen agieren. Die Ärzte bzw. ihre Verbände müssen aktiv in den Vertragswettbewerb eintreten.

Wettbewerbsfähigkeit stärken
Der BAO kann die Wettbewerbsfähigkeit seiner Mitglieder durch folgende Maßnahmen stärken:

  1. Verbesserung des Praxismanagements durch Weiterbildung in Gesundheitsökonomie und Praxismanagement, um "Leistungen in roten Zahlen" zu vermeiden
  2. Ausbau des privaten Versicherungsbereichs (Privatpatienten, Zusatzversicherte, Selbstzahler-Leistungen)
  3. Ausbau und Förderung der Managementgesellschaft Ambulantes Operieren (MAO) als einer Tochter des BAO
  4. Ausbau der Qualitätssicherung AQS1, Benchmarking von häufigen Operationen, Benchmarking von Personal- und Raumkosten
  5. Angebote von "Innovativen Wochenenden" zum Praxismanagement

Neue Märkte/Betätigungsfelder erschließen

1.) Stationäre Durchführung von ambulant erbringbaren Operationen abbauen

Etwa 40 % aller Operationen, die bislang in Deutschland stationär durchgeführt wurden, können nach internationalem Standard ambulant erfolgen. Das sind ca. 5 Mio. Operationen [9] . Dieses ist ein großes Potential für das Ambulante Operieren. Es fragt sich, wo diese 5 Mio. Operationen durchgeführt werden sollen, in Krankenhäusern oder in Tageskliniken.

Voraussetzung für diese Expansion des Ambulanten Operierens ist eine angemessene, das heißt kostendeckende Vergütung. Hier decken sich die Interessen der Ärzte im Krankenhaus und in der Praxis. Deshalb müssen sich die niedergelassenen Ärzte gemeinsam mit den Krankenhausärzten für eine angemessene Bezahlung von ambulanten Operationen im Rahmen einer DRG-Vergütung einsetzen. Es geht nicht mehr in erster Linie darum, wo operiert wird, sondern ob kostendeckende Vergütungen erreicht werden können. Da die Preise laut Gesetz in Krankenhaus und Tagesklinik gleich sein müssen, kann und muss der Wettbewerb zwischen beiden Institutionen ein Wettbewerb um bessere Qualität sein

Bei diesem Qualitätswettbewerb ist maßgeblich, dass das Operieren in kleinen Einheiten wesentliche Vorteile bietet:

2.) Praktische medizinische Ausbildung/Weiterbildung gegen Entgelt anbieten

Ein neues Tätigkeitsfeld für die Tageskliniken kann die medizinische Aus- und Weiterbildung sein, unter der Voraussetzung, dass diese Tätigkeit entsprechend vergütet wird.  Es liegt auf der Hand, dass das Operieren am besten dort erlernt wird, wo es stattfindet, also in Tageskliniken. Auch wenn dieses heutzutage utopisch erscheint, kann sich der Bundesverband für Ambulantes Operieren BAO als Vorreiter für eine moderne praktische Aus- und Weiterbildung aufstellen.

3.) BAO-Mitglieder zu Gutachtern heranbilden

Nur wenn ambulante Operateure und Anästhesisten auch bereit sind, als Gutachter Verantwortung zu übernehmen, werden die Gerichte die Gesichtspunkte des Ambulanten Operierens berücksichtigen können. Gutachter können in entsprechenden Seminaren fortgebildet werden.

Finanzkraft und politische Stärke des BAO vermehren
Um neue Mitglieder und Sponsoren zu gewinnen, muss der BAO klare Ziele formulieren und sie öffentlichkeitswirksam propagieren. Zusätzlich sollte, wie international üblich, die Möglichkeit einer Mitgliedschaft im Verband auf alle Personen, die das Ambulante Operieren als Ziel fördern wollen (OP-Schwestern, OP-Manager u. a.), erweitert werden.

Schwerpunkte der Berufspolitik/Öffentlichkeitsarbeit setzen
Folgende Stichpunkte mögen eine zukünftige Politik des BAO umreißen:

  1. Der BAO muss deutlich machen, dass er sich für die Unternehmerrechte der Ambulanten Operateure und Anästhesisten einsetzt.
  2. Der BAO sollte weniger Kraft in die Lobby der Selbstverwaltungsorgane investieren, sondern muss auf zeitlich begrenzte Leistungsverträge zwischen niedergelassenen Ärzten und KVen sowie Krankenkassen drängen.
  3. Der BAO sollte eine staats-unabhängige Interessenvertretung (Dachverband) aller Ärzte (Krankenhaus- und niedergelassene) mit den übrigen freien Verbänden anstreben, sofern die Interessen der Ambulanten Operateure und Anästhesisten dort angemessen vertreten werden.
  4. Die Leistungen der Ambulanten Operateure und Anästhesisten müssen in der Öffentlichkeit wirksam dargestellt werden, unter anderem durch jährliche Veröffentlichung von Auswertungen der Qualitätssicherung AQS1, durch Hinweise auf ambulante Erst-Operationen und auch auf die Erfolgsgeschichte des Ambulanten Operierens im allgemeinen.
  5. Der BAO muss die qualitätsgesicherten Leistungen der Mitglieder propagieren und zum Beispiel Rahmenverträge mit Krankenkassen und KVen vorantreiben.
  6. Der BAO sollte das Ambulante Operieren im Rahmen des europäischen Gesundheitsmarktes fördern.

[1] J.-A. Rüggeberg, Facharztbrief 01/2008 vom 21.01.08

[2] http://www.hausaerzte-bayern.de/

[3] Fritz Beske, Ärzte Zeitung, 28.02.2008

[4] Hagist C, Heidler M,  Raffelhüschen B, Schoder J, Die Generationenbilanz – Brandmelder der Zukunft Update 2007: Demografie trifft Konjunktur. Diskussionsbeiträge des Forschungszentrums Generationenverträge, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, No. 17 – Mai 2007 http://www.vwl.uni-freiburg.de/fakultaet/fiwiI/fzg/publikationen.php?

 

[5] Baier H, Gesundheitsreform durch Staatszwang statt Selbstregulierung. Versicherungsmedizin 59 [2007] Heft 4, 161-162

[6] Creifelds Rechtswörterbuch, Verlag Beck 2000

[7] Ärzte Zeitung 4.03.2008

[8] Stobrawa F, Die ärztlichen Organisationen in Deutschland. 3. Auflage. Zuckschwerdt 2001

[9] Brökelmann 2006 http://www.arzt-in-europa.de/pages/2006JB_AmbOperieren.html

[10] Brökelmann J, Reydelet J, Häufigkeit von ambulanten Operationen mit nachfolgender stationärer Behandlung.  ambulant operieren 4/2006, 181-183  http://www.mao-bao.de/artikel/2006JBJR_ambulanteOperationen.htm