Grenzen der Ökonomisierung

Schleichende Rationierung im GKV-System offen und ehrlich thematisieren

2008 +++ Ekkehard Ruebsam-Simon +++ Quelle: gpk SONDERAUSGABE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/08 - März 2008, 22-25

Auszüge

Die Grundfragen
Befragt man die rechtlichen Grundlagen der ärztlichen Tätigkeit, so lesen wir in der Bundesärzteordnung Paragraph 1: „1., der Arzt dient der Gesundheit des einzelnen Menschen und des gesamten Volkes. 2., der ärztliche Beruf ist kein Gewerbe, er ist seiner Natur nach ein freier Beruf.“

Damit könnte man eigentlich schließen. Denn nach den Worten dieser Grundlegung haben Ärzte mit so etwas Degoutantem wie einem Gewerbe nichts zu tun. Die Wirklichkeit ist anders, das wissen wir alle. Ohne Ökonomie, das heißt, ohne wirtschaftliche und betriebswirtschaftliche Basierung können wir uns die Ethik zunehmend nicht mehr leisten.

Einige weitere kursorische Bemerkungen zur Rolle des Arztes und der besonderen Beziehung zum Patienten: Neben dem Priester ist der Arzt der älteste Beruf. Es gibt praktisch keine menschliche Gemeinschaft ohne Heilkundige. Zu Ärzten werden Heilkundige aber erst in Hochkulturen, also in Gesellschaften, in denen Geld vorhanden ist, eine „Kaste“ zu bezahlen.

Jeder Arzt steht in der Folge oder einer Nachfolge unzähliger Ärztegenerationen und darin hat die Arzt- Patienten-Beziehung ihre emotionale archaische Wurzel. Der Arzt ist sozusagen qua Behandlungsauftrag selbstverständlich der Treuhänder des Patienten. Er ist gebunden zu helfen und zu heilen.

Der Istzustand
1. Trotz der Überzeugung von vielen, das deutsche Gesundheitssystem könnte wettbewerblich organisiert werden, bezweifele ich das grundsätzlich. Ein System, das Sachleistungen verkauft und darüber noch soziale Ausgleichsfunktionen betreibt, ist im eigentlichen Sinne nicht ökonomisierbar. Weder der EBM 2000 plus noch der nächste 2008 können betriebswirtschaftliche Vernunft hineinbringen.

2. Die Preise ärztlicher Dienstleistungen entsprangen bisher eher einer philosophischen Schätzometrie als einer durchgerechneten Vollkostenkalkulation, in der ärztliche Arbeitszeit und unternehmerisches Risiko adäquat abgebildet werden. Hier hatten und haben wir politische Preise, die dem Diktat der Beitragssatzstabilität gehorchen. Es darf alles geleistet werden, nur nicht teurer als bisher. Das ist die fundamentale Logik.

3. Die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) mutierten nach den letzten Reformen zu staatlich dominierten Unterorganisationen, die mit der Selbstverwaltung im umfassenden Sinne kaum noch etwas zu tun haben.

4. Not tut die Entwicklung qualitäts- und kostengerechter Vergütungssysteme, die auf einer Kosten-Leistungs-Rechnung beruhen wie in der freien Wirtschaft. Legt man diesen Maßstab an, sind zahlreiche ärztliche Praxen schon längst nicht mehr rentabel. Sie existieren unter ständiger maximaler Ausbeutung der eigenen Arbeitskraft, vielfach finanziert der Arzt sich allenfalls seinen eigenen Arbeitsplatz, mehr nicht.

5. (...) bundesweit liegt die Arztstunde zwischen 20 und 40 Euro über alle Fachgebiete. Jeder kann das mit einer Handwerkerstunde vergleichen. Die von allen gewünschte sprechende Medizin bleibt extrem unterbezahlt, lohnt sich, betriebswirtschaftlich betrachtet, nicht.

6. (...) Leider wollen weder Gesundheitspolitiker noch die ärztliche Selbstverwaltung - ich schließe unsere eigenen Leute ein - die Verantwortung für die eigentlich notwendige Kürzung des Leistungskatalogs übernehmen. Das ist aber der eigentliche Knackpunkt - wir sprechen nicht über die Belastung durch den medizinischen Fortschritt. Der wird ungeheuer teuer. Die Politik geht den Weg der heimlichen Rationierung von Gesundheitsdienstleistungen. Die Verantwortung dafür wird großzügig den Ärzten in Klinik und Praxis überlassen und die können sich dann mit Patienten und Versicherten gefälligst auseinandersetzen.

7. Im ambulanten Bereich werden durch ausgeklügelte Pressionsinstrumente die Ärzte unter ständigen Regressdruck gesetzt. Sie haften mit ihrem Einkommen für die Fehler der Politik. Das Ganze wird dann auch noch mit dem Etikett der wirtschaftlichen Vernunft bemäntelt. Zurzeit läuft eine Regresswelle über Deutschland, deren Ausmaße sich viele gar nicht vorstellen können.

8. Eine verrückt gewordene Bürokratie frisst inzwischen 20 bis 40 Prozent der täglichen Arbeitszeit  des eines niedergelassenen Arztes. Darin liegt meines Erachtens der wesentliche Grund für die innere Kündigung vieler Ärzte.

9. Durch rigide Budgetierung und schleichende Rationierung koppelt sich Deutschland vom medizinischen Fortschritt ab.

Zusammenfassend: Es ist äußerst zweifelhaft, ob wir längerfristig in einer globalisierten Wirtschaft unsere Art des Gesundheitswesens, die auf einer sozialistischen Insel, die noch auf Tauschwirtschaft beruht, leisten können. Ich denke, wir brauchen andere Konzepte.

Die Perspektiven
1. Der geplante Gesundheitsfonds wird das Wettbewerbsproblem für die niedergelassenen Ärzte verschärfen. Die Abkoppelung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) vom Wirtschaftswachstum bleibt weiterhin erhalten. Das nominale Bruttoinlandsprodukt wuchs 2006 um 4,2 Prozent, während die Beitragseinnahmen der Krankenkassen um 0,5 Prozent zulegten. Da diese auf einen einheitlichen Hebesatz festgelegt werden, kann es nur einen Wettbewerb in verschiedenen Tarifen geben und beim Einkaufen von Dienstleistungen. Um Zusatzbeiträge zu vermeiden, werden die Krankenkassen die Einkaufskosten durch Einzelverträge immer mehr drücken und ein Dumping bei den Leistungserbringern auslösen.
Die AOK hat angekündigt, das Kollektivvertragssystem mittelfristig durch dieses Instrumentarium ablösen zu wollen. Das ist die Kündigung des bestehenden Systems. Damit verlieren die KVen ihre Funktion Iangfristig. Das ist meines Erachtens eine Art Systemausstieg.

2. Die Einzelpraxis ist sicherlich ein Auslaufmodell, zumindest in den großen Städten. Die Zukunft gehört den vergesellschafteten Formen, also den Berufsausübungsgemeinschaften, Gemeinschafspraxen, Medizinischen Versorgungszentren (MVZs), Teilgemeinschaftspraxen und Ärztehäusern.

3. Da die Niedergelassenen mangels Kapital nur schwache Player in der Gesundheitswirtschaft sein können, können sie nur durch Verbünde, also Arztnetze, ihren Einfluss vermehren. Wenn die KVen als Interessenvertretung obsolet werden, gehört die Zukunft den Netzverbindungen, die politisch und wirtschaftlich arbeiten. Nur so können Ärzte langfristig an der Wertschöpfung im Gesundheitsmarkt mitwirken. Ich denke, dass die Bewusstseinsstruktur vieler Ärzte noch weit von dieser Einsicht entfernt ist. Dem Nachfrage-Oligopol der Krankenkassen können Ärzte dann nur ein Anbieter-Oligopol für medizinische Dienstleistungen entgegenstellen. Gegenüber dem einzelnen Arzt ist die Krankenkasse eine beherrschende Übermacht.

4. Mit dem Ausbau des Selbstzahlermarktes - Individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) - haben Ärzte erkannt, dass sie zunehmend ökonomische Verantwortung übernehmen müssen für sozialrechtlich nicht mehr abgedeckte medizinische Dienstleistungen.

5. Die Zukunft unseres Gesundheitswesens wird von zunehmender Privatisierung gekennzeichnet sein, wie wir im Krankenhaussektor bereits sehen. Auch der Versuch der Bundesgesundheitsministerin, die private Krankenversicherung (PKV) abzuwickeln, ist rückwärts gewandt und macht genau den Teil des Systems, der noch einigermaßen funktioniert, ebenfalls krank.
Langfristig wäre die Option besser, die gesetzlichen Krankenkassen zu privatisieren und auf ihre eigentliche Versicherungsfunktion zurückzuführen.
Dann könnten sie nämlich auch wirklich als ökonomische Player agieren. Damit wären sie auch dem unheilvollen Tun der Gesundheitspolitiker entzogen und könnten ordentlich wirtschaften.

6. Ärzte werden einen Teil der Rationierungsaufgaben übernehmen müssen. Ich plädiere für eine ehrliche und offensive Gestaltung derselben.

7. Es ist kein Geheimnis, dass ich ein Befürworter des Systemausstiegs per kollektiver Zulassungsrückgabe der Ärzte bin, wenn die politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen des Gesundheitswesens in Zukunft weiterhin die
Ärzteschaft in bisherigem Maße belasten.

8. Um überhaupt wirtschaftlich verantwortlich handeln zu können, brauchen Ärzte eine transparente betriebswirtschaftlich kalkulierte Honorarregelung, die die real existierende Morbidität auch angemessen abbildet, ohne die unsägliche Zahl von Komplexziffern. Mir leuchtet nicht ein, dass das, was in der gesamten Volkswirtschaft gang und gäbe ist - nämlich eine saubere Definition der Leistungen mit äquivalentem Euro-Preis - für den Bereich der Gesundheitswirtschaft nicht gültig sein soll.
Erst wenn wir das erreicht haben, wenn wir eine transparente Taxe anwenden, können wir Ärzte im Wirtschaftsmarkt Gesundheitswesen adäquat handeln. Im Moment sind Ärzte die Autofahrer, denen der Tacho ausgebaut wurde, für die überall Radarfallen aufgebaut wurden und die man dann mit Strafen überzieht, wenn sie die Höchstgeschwindigkeit überschritten haben.

9. Eine vollständige Ökonomisierung des Gesundheitswesens wird es aber nicht geben können, da medizinische Dienstleistungen nur bis zu einem gewissen Punkt rationalisierbar und rationierbar sind. Ärzte sind nicht nur Vollzugsorgane einer ökonomischen Vernunft. Es bleibt ein inkompressibler Rest der oben beschriebenen fundamentalen Beziehung übrig. Der Arzt ist durch seine Funktion immer auch Sachwalter des Patienten und zunehmend auch Partner.

Kernthesen von Ekkehard Ruebsam-Simon