Auszüge
Die von der schwarz-roten Bundesregierung lancierte „Gesundheitsreform“ ist ein direkter Angriff auf die gegliederte, selbstverwaltete gesetzliche Krankenversicherung. Die Sozialdemokratisierung der Bundesrepublik erhält einen neuen irreversiblen Schub. Die Zentralisierung der Krankenkassen durch einen Spitzenverband „Bund der Krankenkassen“ und die Einrichtung eines „Gesundheitsfonds", der einheitliche Beiträge der GKV festlegt und die Kassenfinanzen verteilt, zerschlägt das föderale und versicherungsdifferenzierte, also gegliederte System der Gesundheitsversorgung.
Der Titel des vom Bundestag und Bundesrat beschlossenen „GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes“ ist eine Täuschung der Öffentlichkeit.
Die vorgesehenen „Wahltarife“ der GKV höhlen den Leistungskatalog der GKV aus, erhöhen die Abgabenlasten der Versicherten und richten sich unmittelbar gegen die private Krankenversicherung. Deren Wettbewerb untereinander und mit den GKV-Kassen wird unterlaufen durch den vorgeschriebenen „Basistarif“.
Wogegen CDU und CSU im Wahlkampf von 2005 um einen neuen Bundestag angerannt sind, nämlich gegen das SPD-Konzept der „Bürgerversicherung“, wird jetzt auf kaltem Weg erreicht mit Beteiligung der Union: Organisatorische Zentralisierung, staatlich bestimmte Finanzierung, Reduzierung des Leistungskatalogs, Zwangsversicherung und Blockierung des Wettbewerbs der privaten Krankenversicherer. Der Tenor der maßgeblichen Zeitungen ist einheitlich: „Gesundheit unter Staatskontrolle“ oder „Der Weg in die Staatsmedizin “. Es ist „Schmidts Klassenkampf“.
Die Widersprüchlichkeit in Politik und Medien, zum Teil auch in den Körperschaften, ist Folge der Erosion des Sozialstaats. Verdrängte Tatsache ist, dass der Wirtschaftsdruck der Globalisierung, die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes, die Ausdehnung des Sozial- und Gesundheitsschutzes durch die Europäische Union die nationalstaatlichen Verfügungsräume immer stärker eingrenzt.
Die nur noch halbsouveränen Staaten wollen ihre Gesetzgebungs-, Rechtsprechungs- und Verwaltungskompetenzen behaupten und verwandeln sich doch zunehmend in Vollzugsorgane der Konföderation.
Der Gesundheitsfonds mit seiner Umverteilungsmaschinerie der Finanzzuweisung an die Krankenkassen nach sozialepidemiologischer Totalerfassung der Gesundheitsbevölkerung zwecks Risikostrukturausgleich ist ein schlagendes Beispiel. Die Umpolung der Rechtsaufsicht zur Sachaufsicht der Körperschaften der Vertragsärzte und Krankenkassen ein weiteres. Das aufgefahrene Sanktionspotential der Gesundheitsreform wird am Ende ins Leere laufen: Überregulierung statt Deregulierung, Behördendurchgriff statt Selbstverwaltung, Abgabenlast der Versicherten statt Wahlfreiheiten und Selbstbestimmung der Bürger.
Die Alternative ist: Entweder Qualitätssicherung und Effizienzkontrolle nach Gesundheitszielen durch ländergegliederte Körperschaften und marktgesteuerte private Krankenkassen im Wettbewerb untereinander und um ihre Klientel. Oder Marktöffnung, also Privatisierung aller Leistungserbringer und Leistungsbezahler im Gesundheitswesen mit steuergestützter Versorgung der Bürger in Risikolagen, die aus eigener Kraft nicht bewältigt werden können.
Die erste Lösung, bei bewährten Einrichtungen zu bleiben, aber ihre Instrumente zu schärfen, vertritt F. Beske, der Leiter des Kieler Instituts für Gesundheits-System-Forschung. Die schwarz-rote Regierung übergeht ihn trotz seiner Sachkunde und engagierten Präsenz; er gehört ja, wie N. Blüm Anfang Juni vor der christlichen Arbeitnehmerschaft (CDA) beleidigend gesagt hatte, zur „Professorenclique".
Die zweite Lösung, die ich mit Kollegen aus der Gesundheitsökonomie und wissenschaftlichen Sozialpolitik vertrete, wäre europakompatibel, organisationsflexibel und versichertenorientiert. Die europäische Note ergibt sich, weil entwicklungsfähig hinsichtlich des Sozial- und Gesundheitsschutzes; die organisatorische, weil echten Wettbewerb auslösend zwischen den privatisierten und bisher privaten Unternehmen der Krankenversorgung; die versicherungsmedizinische ermöglicht soziale Mobilität, d. h. Versicherungswahlpflicht nach Arbeitsplatz, Berufswechsel, Wohnortwahl (z. B. im Alter) im europäischen Binnenraum. Das „bedrängte Drittel“ bedarf zudem des staatlichen Sozial- und Gesundheitsschutzes (U. Di Fabio), freilich in den Grenzen der Belastbarkeit der Steuerzahler.
Für meine Lösung spricht das Schweizer Modell mit seiner eidgenössisch und kantonal kontrollierten privaten Gesundheitsversorgung, für die Prof. Beskes die „Priorisierung des Gesundheitswesens" in Skandinavien freilich steuerfinanziert und nicht korporativ. Das „Dutch Social lnsurance System“ hat mit seinen Bürgerversicherungskomponenten wohl der deutschen Gesundheitsreform Pate gestanden, jedoch mit einem einschneidenden Unterschied: Die öffentlich-rechtlichen Versicherungsträger wurden privatisiert und regionale Versorgungsmonopole liquidiert.
Die Pointe der entfalteten Alternative ist, dass beide Lösungen körperschaftliches Mandat oder Marktfreiheit dem Wandel des Staates, auch des Wohlfahrtsstaates mit flächendeckender Vollversorgung, zum „Gewährleistungsstaat“ entsprechen. Die Befunde der Staats- und Verwaltungsrechtler sind eindeutig: Wir haben längst eine „Trennung der Staatsaufgaben, die einer hoheitlichen Erfüllung bedürfen“, auf der einen Seite und die „Erfüllung einer öffentlichen Aufgabe durch Private“ bzw. ergänze ich durch körperschaftliche Selbstverwaltung (C. Franzius) auf der anderen.
Ich vermute, diese „Verantwortungsteilung“ zwischen Staat und Körperschaften, Unternehmen und Bürgern ist in Berlin noch gar nicht angekommen. Sie laborieren immer noch am „unvollendeten Korporatismus", den sie mit der Kaskade von Kostendämpfungsgesetzen sanieren wollten und jetzt mit Staatszwang zu Leibe rücken. Europa wird diesen demokratischen Weg von unten weisen. Vorläufig gehen wir den Weg von oben, den Weg zu einer überverrechtlichten und bürokratischen Staatsmedizin.
Prof. em. Dr. med. H. Baier,
Renkenweg 9, 78464 Konstanz