Sind ökonomische Dynamik und Soziale Marktwirtschaft vereinbar?

Funktionierender Kapitalismus ist besser als osteuropäischer Sozialismus oder westeuropäisches Wirtschafts- und Sozialsystem

2007 +++ Edmund S. Phelps  +++ Quelle: Internet

Auszüge:

Ich wurde eingeladen, um über Deutschlands Wirtschaftssystem zu sprechen - die so genannte Soziale Marktwirtschaft.

Die Theorie des Kapitalismus

Meiner Ansicht nach bietet es sich an, die Soziale Marktwirtschaft aus der Perspektive alternativer Wirtschaftssysteme zu betrachten.

In der Volkswirtschaftslehre gibt es aus meiner Sicht zwei Ansätze zur Rechtfertigung des Kapitalismus. Friedrich Hayek trug zu beiden Denkansätzen bei, was eine gewisse Verwirrung gestiftet hat. In seinem Buch Der Weg zur Knechtschaft (und später in Die Verfassung der Freiheit) geht Hayek davon aus, dass Menschen ebenso wirtschaftliche wie politische Freiheiten genießen sollten - die Freiheit beispielsweise, ein Unternehmen zu gründen und zu schließen, ein neues Produkt oder eine neue Herstellungstechnik einzuführen - und so weiter. Da sozialistische und korporatistische Systeme den Menschen manche dieser persönlichen Freiheiten absprechen, sind sie ungerecht.

In den sechziger Jahren (wenn nicht schon früher) erkannte Hayek offensichtlich, dass aus dem persönlichen Wissen eines Einzelnen eine originelle Idee erwachsen konnte, bei der der Betreffende einigermaßen sicher davon ausgehen konnte, dass sie zeitgleich oder in naher Zukunft kein anderer haben würde. Auf diese Weise entwickelt der Kapitalismus als "Bottom-up"-System durch persönliche Initiative, die auf persönlichen Wissen fußt, von der Basis her das Potenzial für Kreativität.

Im Gegensatz dazu versagt ein Top-down-System, das von wirtschaftsfernen staatlichen Einrichtungen gesteuert wird, die nicht über das reiche Wissen derer verfügen, die sich in der Wirtschaft engagieren.

Kräftige Dynamik ist für das Arbeitsleben von unschätzbarem Wert - sie bringt Mitarbeitern ebenso wie Unternehmern Vorteile bei der persönlichen und intellektuellen Entwicklung. Zumindest in hoch entwickelten Volkswirtschaften bestimmen die Mechanismen der Innovation und der Entdeckung diese Erfahrung stark. Sie bestimmen zum Beispiel den Grad, in dem sich die Beschäftigten durch ihre Arbeit ausgefüllt fühlen, und auch das Gefühl, dass sich die geleistete Arbeit gelohnt hat - die Zufriedenheit am Arbeitsplatz. Ohne wirtschaftliche Dynamik würde Arbeit den Menschen keinen über das Geld hinausgehenden Gewinn vermitteln können.

Die Soziale Marktwirtschaft in Europa

Viele Beobachter glauben immer noch, dass hinter dem Begriff "Soziale Marktwirtschaft" ein kapitalistisches System steckt, das durch ein Wohlfahrtssystem mit einer sozialen Grundsicherung und sozialen Hilfsprogrammen ergänzt wird. Dabei hat der Kapitalismus Sozialversicherungsprogramme nie generell ausgeschlossen. (Hayek selbst wollte einige Staatsprogramme einbauen.) Erhard erklärte, dass Wettbewerb per se sozial sei - und damit im gesamtgesellschaftlichen Interesse liege. So als wolle er damit sagen, dass darüber hinaus gar kein wohlfahrtsstaatlicher Ballast mehr notwendig oder erforderlich sei.

Heute hat die Soziale Marktwirtschaft zwei neue Ausstattungsmerkmale: Mitbestimmung der Unternehmensführung durch Mitarbeiter an der Seite der Eigentümer und eine Reihe schmerzhafter Regulierungen, denen Arbeitgeber unterliegen, während die Arbeitnehmer auf der anderen Seite Rechte erhielten. Auf diese Weise wurde - kurz gesagt - die Verfügungsgewalt über das Kapital zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern aufgeteilt.

Zu Zeiten Erhards hielten viele an jenen gesellschaftspolitischen Auffassungen fest, die ich bereits zuvor erwähnt hatte: den Egalitarismus, den Antimaterialismus und die Idee der Sozialpartnerschaft.

Meiner Ansicht nach ist empirisch erwiesen, dass ein funktionierender Kapitalismus, dort wo er durchführbar ist, neue innovative Ideen, ihre Entwicklung und Evaluierung besser stimulieren kann als einerseits der osteuropäische Sozialismus oder das westeuropäische Wirtschafts- und Sozialsystem - wie auch immer wir das nennen wollen.

Ich behaupte, dass eine hohe wirtschaftliche Dynamik für ein gutes Leben unabdingbar ist. Den größten Teil unseres Lebens arbeiten wir - und das ist sehr wichtig, denn dadurch erhalten wir geistige Anregung: Wir lernen Probleme zu lösen und zu erforschen und erhalten damit die Möglichkeit, uns geistig zu entwickeln und persönlich zu wachsen. Im Vergleich dazu sind andere Aspekte - wie zum Beispiel Sicherheit - weniger wichtig.

Ganz allgemein ist es unglücklich, dass die politischen Parteien so sehr damit beschäftigt sind, bestimmte politische Standardhebel wie Steuersätze, Haushaltssalden und Handelspolitik vor- und zurückzuziehen. Dieses Hin und Her erfolgt in der Regel zyklisch, die Politik bewegt sich nicht in eine bestimmte Richtung. Das verspricht ganz sicher keinen sichtbaren Zuwachs an wirtschaftlicher Dynamik.

Im Rahmen des gesetzlichen Kündigungsschutzes wird ein Unternehmen, das seine Belegschaft reduziert, zur Kasse gebeten (besteuert). Umgekehrt erhält es aber keine finanzielle Unterstützung (Subvention), wenn es investiert, um neue Mitarbeiter einzustellen.

Die Idee einer Aufstockung der Gehälter von gering verdienenden Arbeitsnehmern durch den Staat (Kombilohn) empfehle ich dagegen ausdrücklich. Ich spreche mich bereits seit langem dafür aus, niedrige Löhne staatlich zu bezuschussen. Mit gesetzlichen Mindestlöhnen würde allerdings der Rückwärtsgang eingelegt: Gesetzliche Mindestlöhne erhöhen die Arbeitskosten für die Arbeitgeber und werden in fast jedem Fall dazu führen, dass die Beschäftigtenzahl in der Wirtschaft sinkt.

Vor allem aber müssen die deutschen Institutionen im Bereich der Unternehmensorganisation (Corporate Governance) überprüft werden - hier insbesondere die Mitbestimmung, das Konkursrecht sowie die Struktur und Funktionsweise des gesamten Finanzsektors.

Kommt es zu einem kräftigen Vorstoß hin zu einem Wirtschaftssystem mit deutlich höherer Dynamik, so kann sich Deutschland nicht nur auf mehr Zufriedenheit und Engagement der Arbeitnehmer freuen, sondern auch auf gesteigertes Wirtschaftswachstum und einen Zustand nahe der Vollbeschäftigung! Eine gesunde deutsche Volkswirtschaft kommt der ganzen Welt zugute.

Edmund S. Phelps, Professor an der Columbia University New York, Träger des Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaften