Der solidarische Zulassungsverzicht der Kassenärzte, oder:

Weisen uns die Kassenärzte einen Weg aus dem deutschen Sozialstaats-Irrsinn?

2007 +++ Carlos A. Gebauer +++ Quelle: facharzt.de, 17. Januar 2007

Auszüge:

1.) Das Fünfte Sozialgesetzbuch hat den im Volksmund noch immer als "Kassenarzt" bekannten Arzt zum "Vertragsarzt" gemacht. Dies ist bei stringenter juristischer Betrachtung in vielfacher Hinsicht irritierend. Denn der "Vertragsarzt" hat einen Vertrag weder mit seinen gesetzlich krankenversicherten Patienten, noch auch mit der – bezeichnenderweise noch immer so genannten - Kassenärztlichen Vereinigung. Aus vielen "Vertragsärzten" gemeinsam wird also eine "Kassenärztliche Vereinigung". Ich bleibe daher terminologisch lieber beim althergebrachten und angemesseneren Begriff vom "Kassenarzt".

Der "freie Beruf" des Kassenarztes existiert faktisch nicht (mehr). Vielmehr handeln Kassenärzte schon heute praktisch als Scheinselbständige der öffentlich-rechtlichen Körperschaft Kassenärztliche Vereinigung. Ihre therapeutischen Spielräume sind entkernt und auf ein Mindestmaß reduziert. Denn aus dem Zusammenschluss freiberuflicher Ärzte wird nach dem Willen des Sozialgesetzbuches plötzlich wieder eine öffentlich-rechtliche Körperschaft. 

c.) Ein aus Bulgarien stammender Kassenarzt sagte mir neulich, das hiesige System sei "wie Kommunismus, nur schlimmer". Denn anders als hier hätte man sich als Arzt im Ostblock wirtschaftlich schlichtweg um gar nichts scheren müssen (mit den allseits bekannten Konsequenzen); hier droht zugleich noch die private Insolvenz.

d.) Die durch solcherlei gesetzliche Regelungen um den einmal als Kassenarzt zugelassenen Mediziner errichteten Mauern sind durch eine obergerichtliche Entscheidung des Landessozialgerichtes Niedersachsen-Bremen vom 13. September 2006 (Geschäftszeichen L 3 KA 90/05) noch bemerkenswert erhöht worden. Zwar stehe selbst einem Kassenarzt im Prinzip auch die grundgesetzlich abgesicherte Berufsfreiheit aus Artikel 12 I GG zur Seite, sich zu entscheiden "ob er im Rahmen des vertrags(zahn)ärztlichen Versorgungssystems oder privatrechtlich tätig werden möchte". Dies gälte aber dann nicht mehr, wenn - so wörtlich - "diese Freiheit - wie im Fall des § 95b I SGB V - durch konzertiertes Verhalten zu dem Zweck mißbraucht wird, Druck auszuüben, etwa um den Gesetzgeber oder die Normgeber der Selbstverwaltung ... zur Änderung von Rechtsvorschriften zu bewegen oder sogar die ... Versorgung in einem bestimmten Gebiet insgesamt auszuhöhlen."

Zur Begründung bezieht sich das Gericht auch in dieser Entscheidung wieder - inzwischen geradezu traditionell – auf kollidierende Gemeinschaftsziele: "Denn die Berufsausübungsfreiheit des (Zahn-)Arztes wird durch Gemeinwohlbelange beschränkt, zu denen insbesondere der Schutz eines funktionierenden ... Systems im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung gehört."

e.) Die Vorstellung, daß ein Bürger sein Grundrecht "mißbrauchen" könne, ist schon für sich gesehen juristisch alles andere als unproblematisch. Rechtsgeschichtlich wird der Rechtsmißbrauch - in Anlehnung an römisch-rechtliche Vorstellungen - verstanden als eine Art Grenzlinie gegen eine sittenwidrige und schikanöse, schrankenlose Rechtsausübung. Das Rechtsinstitut des Rechtsmißbrauches sollte mithin "dem sittlich verwerflichen Gebrauch rechtlicher Macht entgegentreten". Von einem rechtsunwirksamen Gebrauch eigener Rechte geht beispielsweise die gesetzliche Regelung des § 226 BGB dann aus, wenn die Rechtsausübung keinen anderen Zweck haben kann, als den, einem anderen Schaden zuzufügen. Wollen aber Kassenärzte, die den Systemzwängen der gesetzlichen Krankenversicherung ausweichen, überhaupt zielgerichtet irgend jemandem schaden? Das läßt sich schwerlich behaupten.

f.) In der bereits genannten Entscheidung des Landessozialgerichtes Niedersachsen-Bremen wird an einer Stelle sogar terminologisch davon ausgegangen, daß die "Kollektivaussteiger" die normativen Festlegungen ihres rechtlichen Handlungsrahmens durch den Ausstieg - so wörtlich - "bekämpfen" wollen. Das Landessozialgericht stellt mithin eine gedankliche Parallele her zu einer Vorschrift des Grundgesetzes, die die Verwirkung von Grundrechten thematisiert.  Artikel 18 GG lautet:
"Wer die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere die Pressefreiheit (Artikel 5 I), die Lehrfreiheit (Artikel 5 III), die Versammlungsfreiheit (Artikel 8), die Vereinigungsfreiheit (Artikel 9), das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Artikel 10), das Eigentum (Artikel 14) oder das Asylrecht (Artikel 16a) zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht, verwirkt diese Grundrechte. Die Verwirkung und ihr Ausmaß werden durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen."

Interessant an dieser Parallele sind wenigstens drei Aspekte: Zum ersten, daß Artikel 18 GG just die hier interessierende Berufsfreiheit aus Artikel 12 GG nicht erwähnt; zum zweiten, daß Artikel 18 GG die Verwirkung von Grundrechten durch mißbräuchlich handelnde Grundrechtsträger allenfalls durch das Bundesverfassungsgericht und auch nur in jedem Fall eines einzelnen Rechtssubjektes beschreibt. Zum dritten, daß jede Auseinandersetzung mit der Frage fehlt, ob nicht Artikel 19 II GG (mit seiner Garantie, daß Grundrechte nicht in ihrem Wesenskern angetastet werden dürfen) dieser gerichtlichen Entscheidung entgegensteht.

g.) Zusammenfassend ist demnach zu resümieren: Die partielle Aberkennung des Grundrechtes auf Berufsfreiheit für eine ganze Gruppe von Grundrechtsträgern mit der Erwägung, sie mißbrauchten ihr Grundrecht zur Bekämpfung von Rechtsregeln, überschreitet folglich den von dem Grundgesetz selbst vorgestellten Rahmen der Einschränkung von Grundrechten. Die Rechtsprechung des Landessozialgerichtes Niedersachsen-Bremen kann daher nicht anders als "außergewöhnlich" bezeichnet werden.

Da die Kassenärztlichen Vereinigungen im Sinne des Fünften Sozialgesetzbuches per Definition des Gesetzgebers Körperschaften des öffentlichen Rechtes sind (vgl. § 77 V SGB V), können sie sich im Ansatz - gleichsam als "Teil des Staates" mit der Befugnis zur hoheitsrechtlichen Regelungen von Sachverhalten und Rechtsverhältnissen - nicht auf grundgesetzlich garantierte Abwehrrechte gegen den Staat berufen.

§ 95b 1 Fünftes Sozialgesetzbuch, der es mit den Pflichten eines Vertragsarztes für unvereinbar erklärt, solidarisch aus dem System auszusteigen, ist wegen seines Verstoßes gegen Artikel 9 III S. 1 GG verfassungswidrig. 

e.) (...) Nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes soll die finanzielle Stabilität des Sozialversicherungssystems ein solcher Gemeinwohlbelang sein. Allerdings gesteht das Bundesverfassungsgericht an anderen Stellen seiner Rechtsprechung durchaus bereits ein, daß es Dinge gibt, die sich "angemessener" regeln lassen, als durch staatliche Maßnahmen. Dies gälte nach seiner Rechtsprechung insbesondere für die auch hier betroffene Frage nach der Entlohnung von Arbeit ("Festsetzung der Löhne"), als auch für materielle Arbeitsbedingungen.

g.) Wer das heutige Kassenarztsystem mit seinen Planungs-, Überwachungs-, Rechtfertigungs- und "Qualitäts"-Zwängen und in seinen Bürokratie-Exzessen von innen her kennt, der wird schaudern angesichts einer knappen Zusammenfassung Horst Dieter Schlossers aus dem Jahre 1990 über den zusammengebrochenen DDR-Sozialismus:

"Dem ‚sozialistischen Wettbewerb' als diffizilem System zur Leistungssteigerung im DDR-Arbeitsleben konnte sich kaum jemand entziehen ... Unter Führung des FDGB und seiner jeweiligen Betriebsgewerkschaftsorganisation sollte der Wetteifer der Werktätigen zu einer koordinierten Übererfüllung vorgegebener Planziele erbracht werden. ... Die persönlichen und kollektiven Leistungen wurden auf offiziellen Formularen (Planauftrag) abgerechnet, die u. a. die Normerfüllung und ein Fehlerlimit in Prozent angaben, die Einsparung von Grundarbeitszeit, Grundmaterialkosten u. a. in Markbeträgen, die Anzahl von eingereichten Neuerervorschlägen, die Auslastung der Grundmittel (etwa der Werkzeugmaschinen) in Zeitangaben enthalten mußten. ..."

Ein bürokratisch entgleistes Kassenarztsystem (ebenso wie das gesamte Gesundheitsversorgungssystem der Bundesrepublik insgesamt) bietet - auch unter den dort so genannten "Qualitätssicherungsmaßnahmen" - seriös keinerlei auch nur abstrakte Möglichkeit, den Zweck einer ordnungsgemäßen Gesundheitsversorgung der Gesamtbevölkerung sicherzustellen. Mithin läßt sich auch mit den Maßstäben aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes nicht begründet argumentieren, das gegebene System schütze Gemeinwohlbelange von solcher Bedeutung, daß die grundrechtliche Freiheit von Ärzten, solidarisch aus dem System auszusteigen, hierdurch eingeschränkt werden dürfte.

h.) Kassenärzte sind heute nur noch der Form nach Freiberufler. Inhaltlich handelt es sich um halbstaatliche Bedienstete eines öffentlichen Dienstes besonderer Art; der Kassenarzt ist also ein Amtsträger sui generis. Inwieweit es in einem solchen System noch zu einer verantwortlichen Kostenkontrolle auch der beteiligten Ärzte kommen könnte, ist unklar.

i.) In der Menschheitsgeschichte ist es immer dort gefährlich geworden für Rationalität, Aufklärung und Geradeausdenken, wenn nicht mehr nur nüchtern geforscht wurde, sondern wenn statt dessen "gefühlt und geglaubt" wurde. Noch aber herrscht in Deutschland gesundheitspolitisch ein diffuser Glaube an das vermeintlich Warme, Gute und Soziale in jedem Befehl an den Kassenarzt. Dieser gefährliche Glaube muß ersetzt werden durch das Zugeständnis, auf einen geistesgeschichtlichen Abweg geraten zu sein.

4.) Den Kassenärzten muß nach allem das verfassungsmäßige Recht zugestanden werden, freiwillig und gemeinschaftlich - also solidarisch im ureigensten Sinne des Begriffes - aus dem heute bestehenden, maroden System auszusteigen, um anschließend ein auf jeweils freiwilliger Basis eingegangenes, neues und funktionsfähiges System zu begründen.

Eine Vergesellschaftung der Kassenärztlichen Vereinigungen erscheint in diesem Zusammenhang als weiteres realistisches Ziel wünschenswert. Als Gesellschaftsform kommt die zivilrechtliche Form der Genossenschaft oder der Aktiengesellschaft mit ihren beteiligten Ärzten als - ausschließlichen - Aktionären bzw. Genossen in Betracht. Unter diesen Voraussetzungen wird es den beteiligten Kassenärzten möglich, jederzeit freiwillig aus dieser Vereinigung auszutreten. Nur dies entspricht den Wertentscheidungen auch des Grundgesetzes als einer zuerst freiheitlichen Verfassung.

An die Adresse der protestierenden Kassenärzte gerichtet mag in ihrem Konflikt mit den Vertretern des derzeit noch bestehenden Systems an den großen chinesischen Konfliktexperten Sun Zi erinnert werden. Schon der wußte, daß die beste Konfliktlösungsstrategie stets die ist, einen Gegner unversehrt einzunehmen; eine schlechte Taktik sei, ihn zu zerstören. Dies sollten auch die heute protestierenden Kassenärzte beherzigen.

Homepage von Carlos A. Gebauer: www.make-love-not-law.com