Für immer Sklave? - Gesundheitspolitik und Ärzte-Proteste

Anhänglichkeit an das GKV-System charakterisiert die ärztlichen Verbände

2007 +++ Bertram Steiner +++ Quelle: Busch-Telefon (Internet)

Auszüge:

Die (nicht allen Ärzten) bekannten Tatsachen

Auch wenn es im Grundgesetz keine ausdrückliche Verankerung findet, wurde in den vergangenen 50 Jahren die Gesundheitspolitik als „Staatszielpolitik“ verstanden.

Nach Kriegsende bestand die Notwendigkeit, in der allgemeinen Mangelverwaltung auch der medizinischen Versorgung Raum zu geben. Die Reichsversicherungsordnung (RVO), die 1911 das Krankenversicherungsgesetz von 1883 ablöste, war 1949 die vorgefundene Rechtsordnung für die Bundesrepublik. In dieser Phase der Mangelverwaltung konnte man der RVO mit ihrem Sachleistungsprinzip (fußend auf dem Umlagesystem) durchaus die politische Notwendigkeit zugestehen.

Die systemimmanenten Fehler des Sachleistungssystems und des Umlageverfahrens waren bekannt. 1956 versuchte Theo Blank mit einem Gesetzentwurf die Grundlage für ein Kostenerstattungsverfahren zu schaffen. Leider wurde der Gesetzentwurf aufgrund von diversen Interventionen (insbesondere seitens der ärztlichen Standespolitik) durch Konrad Adenauer angesichts anstehender Wahlen zurückgezogen. Der Siegeszug der Sachleistung war gebahnt.

Die in der RVO beschriebene Systematik hat zwei grundsätzliche Fehler, die zu der permanenten finanziellen Notlage führen müssen. Auch die kurze Phase finanzieller Prosperität der deutschen Sozialsysteme zwischen 1965 und 1975 lässt eine andere Beurteilung nicht zu.

Umlageverfahren
Ein grundsätzlicher Fehler besteht in dem Umlageverfahren, das für alle Zweige der Sozialversicherung gilt. Das eingezahlte Geld wird prinzipiell für die notwendigen Ausgaben verwendet. Anders als beim Kapitaldeckungsverfahren darf im Umlageverfahren bis auf die gesetzliche Deckungsreserve kein Kapital angespart werden.

Es wird sofort offenbar, dass eine akute Abhängigkeit zwischen wirtschaftlichem Wachstum und Leistungsfähigkeit der Sozialversicherung besteht. Jede gesamtwirtschaftliche Turbulenz muss bedrohliche Auswirkungen auf die finanzielle Basis der Sozialversicherung haben.
1960 mochte niemand daran denken, dass sich das Wirtschaftswachstum negativ entwickeln könnte. Erst recht wollte niemand voraussehen, dass sich die Geburtenrate negativ entwickelt und zusammen mit den medizinischen Erfolgen die Alterspyramide radikal verändern würde.

Das Umlageverfahren fußt auf dem politischen Versprechen, zu einem späteren, nicht vorhersehbaren Zeitpunkt von den anderen Teilnehmern am Umlageverfahren eine Leistung zu erhalten. Dafür beteiligt sich der Teilnehmer an den aktuellen Leistungskosten. Nur in einem statischen System, in dem
1. die Gruppe der Einzahlenden gleich groß bleibt,
2. die eingezahlte Summe gleich groß bleibt,
3. die Leistungskosten gleich groß bleiben,
bzw. in einem System, in dem die Verhältnisse der drei Parameter zueinander gleich bleiben, könnte so ein Versprechen gehalten werden.

Leicht lässt sich erkennen, dass es sich bei der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) um ein sehr variables, auf keinen Fall um ein statisches System handelt. Sobald sich nur einer der drei Parameter anders als vorgesehen entwickelt, muss eingegriffen werden.
Da sich die Parameter in dem Fall der GKV zusätzlich potenzieren, gestalten sich die Eingriffsmöglichkeiten noch schwieriger. In den letzten Jahren ging die Zahl der Einzahlenden zurück, die Zahl der Leistungsempfänger aber stieg nicht nur durch die gestiegene Lebenserwartung, sondern auch durch die Tatsache, dass Arbeitslose mehr Leistungen abfordern als im Berufsleben stehende Menschen.

Nicht zuletzt: Es ist dem Einzahlenden politisch schwer zu vermitteln, dass er plötzlich auf Leistungen keinen Anspruch mehr hat, für die er in der Vergangenheit – als er sie nicht benötigte – seinen Beitrag bezahlt hat.

Sachleistungsprinzip
Der speziell für die GKV wichtige weitere Systemfehler besteht im Sachleistungssystem. Das Sachleistungssystem leidet prinzipiell unter mehreren negativen Einflüssen, die nicht oder kaum beeinflussbar sind.

Ärztliche Standespolitik
Der Ursprung ärztlicher Standespolitik geht weit zurück. Der 1900 gegründete Hartmannbund konnte sich 1904 durch Streikmaßnahmen gegenüber den übermächtigen Krankenkassen durchsetzen. Eine Notverordnung von Reichskanzler Brüning legte nach 1931 fest, dass der Hartmannbund künftig als Vertreter aller Ärzte fungieren durfte und über die eingerichteten Kassenärztlichen Vereinigungen die Honorare intern verteilen konnte.1935 wurden aus den kassenärztlichen Vereinigungen Körperschaften des öffentlichen Rechts, die Ärztekammern wurden mit eigener Disziplinargewalt ausgestattet.

Nach dem Krieg wurde in der DDR das aus der Inflationszeit stammende Ambulatorium als Prinzip eingeführt und die niedergelassenen selbständigen Ärzte wirtschaftlich so stark behindert, dass ihre Zahl 1989 keine Rolle mehr spielte. Standespolitik fand nicht statt, wenn man demokratische Maßstäbe ansetzt.

In der BRD wurden nach 1945 die aus der Nazizeit stammenden körperschaftlichen Strukturen übernommen, die zunächst im wesentlichen vom Hartmannbund besetzt wurden. Der 1947 gegründete Marburger Bund (MB) verstand sich als Vertretung der angestellten und verbeamteten Ärzte innerhalb der Ärztekammern und als gewerkschaftlicher Verbund, der sich für tarifvertragliche Belange einsetzte.

Der NAV-Virchow-Bund entstand 1949 als Arbeitsgemeinschaft der Ärzte, die keine Kassenzulassung (NKV) hatten und setzte sich für eine allen Ärzten zugängliche Kassenzulassung ein. Eine Verfassungsklage des NKV zusammen mit dem MB führte im Jahre 1960 zur freien Zulassung aller Ärztinnen und Ärzte zur Kassenzulassung.

Der Freie Verband Deutscher Zahnärzte (FVDZ), 1955 als Notgemeinschaft Deutscher Zahnärzte gegründet, hat sich nach Erreichen der freien Kassenzulassung 1960 für den Erhalt der Selbstverwaltung und die Abschaffung des Sachleistungssystems eingesetzt. Mit dem Hartmannbund wurde eine enge Zusammenarbeit gegen die gesetzlichen Beschränkungen angestrebt.

Im Laufe der Jahre entwickelten sich die ärztlichen Verbände mehr zu Wahlvereinen für die Körperschaft KV/KZV (und nebenbei auch für die Kammer). Die wichtigen Ämter wurden in der Körperschaft gesehen, der Zusammenhalt der niedergelassenen Ärzte und Zahnärzte fand nur noch innerhalb der Zwangsmitgliedschaft der KV/KZV statt. Fachärztliche Verbände traten hinzu, der Hausärzteverband trat in einen offenen Gegensatz zu fachärztlichen Verbänden, es ging um die Verteilung des Sachleistungshonorars.

Somit war auch die Verbändelandschaft in Mitleidenschaft gezogen. Da die lukrativen Positionen nur über die Verbände zu erreichen waren, und das auch noch in Konkurrenz untereinander, mussten die Verbände eine körperschaftliche Orientierung gewinnen. Gerade aufgrund der Budgetierung nahm der verbandliche Konkurrenzkampf zu. Nicht der Widerstand gegen die politischen Vorgaben stand im Vordergrund, sondern der innerärztliche Konkurrenzkampf um den zu verteilenden Kuchen.

Diese Ausgangssituation mit ihren verkrusteten Strukturen und abgeschotteten Netzwerken führte angesichts sich verschärfender politischer und wirtschaftlicher Situation zu einer Abwendung der ärztlichen Basis von ihren Verbänden. Ein „Marsch durch die Institutionen“ wurde nicht in Erwägung gezogen, eine fatalistische Haltung machte sich bei den Kollegen in den Jahren 1985 bis 2005 breit. Erst die für eine erhebliche Zahl von Ärzten unerträgliche wirtschaftliche Situation in den Jahren 2003 bis 2005 führte zu Zulauf bei neuen Verbänden wie der Freien Ärzteschaft (FÄ) oder dem Bündnis Direktabrechnung (BD).

Einige Ärztegemeinschaften gründeten sich in den letzten zehn Jahren (MEDI etc.) mit der Zielsetzung, innerhalb des Systems, aber außerhalb des KV-Systems, unter Ausnutzung der gesetzlichen Möglichkeiten einen zusätzlichen wirtschaftlichen Ertrag für die Ärzte zu generieren. Hierbei muss – regional unterschiedlich – ein gewisser Erfolg festgestellt werden. Hausarztverträge, integrierte Verträge, DMPs u.a. konnten außerhalb der KV mit Vorteilen für die teilnehmenden Ärzte abgeschlossen werden. Immerhin fließen heute über 30% der Gesamtvergütung in diese Selektivverträge.

Allen traditionellen ärztlichen Verbänden mit Ausnahme des FVDZ und teilweise des HB ist die Anhänglichkeit an das GKV-System eigen. Eine Umorientierung mit allen Konsequenzen – Direktabrechnung mit dem Patienten, Abschaffung der Körperschaften, Kostenerstattung durch privatrechtliche Versicherer – haben die wenigsten Verbände begonnen oder gar vollzogen. Zu lange sahen die Funktionäre die Verbände als Wahlverein für die Körperschaften.

Der Sachleistungsmisere können die meisten Verbandsfunktionäre keine politische Vision entgegensetzen. Von den jüngeren Verbänden haben lediglich FÄ und eine klare Ausrichtung weg von der GKV vorzuweisen. MEDI und Genossenschaften nehmen eine Zwitterstellung ein. Sie wollen das Korsett KV abstreifen, gehen aber davon aus, dass es nach wie vor ein GKV-System geben wird. Die diesem System innewohnenden Widersprüche lassen sie unaufgelöst. Sie sehen ihre standespolitische Chance in einem Spagat zwischen begrenzter Gesamtvergütung und unbudgetiert ausgezahltem Honorar für Selektivvertragsleistungen.

Ausblick
Ohne Fortführung der aus dem Protest hervorgegangenen Initiativen in gleicher Intensität wird die sozialistische Politik obsiegen und in einigen Jahren mit modernen Polikliniken und darin angestellten Ärzten die ärztliche Versorgung der Bevölkerung darstellen. 20 bis 30 % der heute niedergelassenen Ärzte werden auf welche Art auch immer aus dem Berufsleben ausgeschieden sein. Es wird noch 80 % der Hausärzte und 20 % der Fachärzte in Selbständigkeit geben.

Die Hausärzte werden Kopfpauschalen für die Behandlung der eingeschriebenen Patienten erhalten und auf heutigem Einkommensniveau existieren. Die verbliebenen niedergelassenen Fachärzte werden sich von privater Nischenbehandlung ernähren oder sorgen in den Gebieten des Landes für die fachärztliche Versorgung, wo ein MVZ unrentabel wäre. Der größte Teil der Fachärzte wird in den MVZ als angestellter Arzt tätig sein.

Wenn wir also nicht für immer Sklave sein wollen, wenn uns also dieses Szenario nicht gefällt, müssen die in diesem Papier aufgeführten Maßnahmen mit Vehemenz in Angriff genommen und weitere Vorstellungen entwickelt werden.