Abnehmende Autonomie

EU-Wettbewerbsrecht birgt Risiken für das deutsche Gesundheitssystem

2006 +++ Rolf Rosenbrock +++ Quelle: WZB-Mitteilungen Heft 113 September 2006, 36-38

Auszüge

In der Europäischen Union ist Gesundheitspolitik – wie andere Felder der Sozialpolitik auch – bislang eine Domäne der Nationalstaaten.

Neben diesen allgemeinen Aufgabenbestimmungen sind der EU auf einzelnen präventionspolitisch wichtigen Feldern zudem explizite Regelungskompetenzen zugewiesen, nämlich der Gesundheitsschutz in der Arbeitsumwelt und der gesundheitliche Verbraucherschutz.

Der Einfluss der europäischen Integration auf die nationalstaatliche Gesundheitspolitik erfolgt auf unterschiedlichen Wegen:

Erstens haben die Mitgliedstaaten bei der Gestaltung ihrer Gesundheitssysteme – wie der Europäische Gerichtshof (EuGH) klargestellt hat – bei der Gestaltung ihrer Gesundheitssysteme so weit wie möglich die Grundsätze des Binnenmarktes zu beachten.

Zweitens wird mit der Offenen Methode der Koordinierung auf europäischer Ebene derzeit ein neuartiger Regulierungsmodus etabliert, der einen schleichenden Souveränitätsverlust der Nationalstaaten über die Gestaltung ihrer sozialen Sicherungssysteme und damit auch ihrer Versorgungs- und Krankenversicherungssysteme nach sich ziehen könnte, selbst wenn er ihre formelle Zuständigkeit unangetastet lässt.

Diese Auflagen der EU bringen vor allem das deutsche System der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), das auf einem Kollektivvertragssystem zwischen Krankenkassen und Leistungsanbieter im Gesundheitssektor basiert, in ein Spannungsverhältnis zu den geltenden europäischen Wettbewerbsregeln. Bislang wurde diesem Problemfeld allerdings noch wenig Beachtung geschenkt.

Das europäische Wirtschafts- und Wettbewerbsrecht beinhaltet unter anderem das Verbot „wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen und Verhaltensweisen“ sowie das Verbot des „Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung“. Zugleich zählen Kollektivverhandlungen und -verträge zwischen den Verbänden der Krankenkassen und den Verbänden der Leistungsanbieter (zum Beispiel Ärzte und Krankenhäuser) zu den tragenden Säulen des Steuerungsregimes in der GKV.

Die Gretchenfrage in diesem Zusammenhang ist, ob die Krankenkassen als Unternehmen im Sinne des europäischen Wettbewerbsrechts anzusehen sind, denn nur in diesem Fall unterliegen sie den kartellrechtlichen Bestimmungen des Binnenmarktes. Diese Frage ist bzw. war umso drängender, als der EuGH in seiner  Rechtsprechung einen „funktionalen Unternehmensbegriff“ zugrunde legt. Dieser besagt, dass für den Charakter einer bestimmten Organisation nicht ihre Rechtsform maßgeblich ist, sondern die Funktion, die sie wahrnimmt. Auch öffentliche Einrichtungen können demnach Unternehmen sein, wenn sie eine Tätigkeit ausüben, die auch Private durchführen können – was bei einer Krankenversicherung der Fall ist.

Vor diesem Hintergrund sind die Kollektivverträge in der GKV von Unternehmen im Gesundheitssektor – insbesondere der pharmazeutischen Industrie – in der Vergangenheit wiederholt als wettbewerbswidrige Absprachen vor dem EuGH beanstandet worden. In einem 2004 ergangenen Urteil hat der EuGH den Unternehmenscharakter der Krankenkassen allerdings verneint, dabei aber den Unternehmensbegriff in einer Weise konkretisiert, die für die Zukunft der Gesundheitspolitik in Deutschland erhebliche Auswirkungen nach sich ziehen könnte. Dem EuGH zufolge sind Organisationen nämlich nur dann Unternehmen, wenn sie einer ökonomischen Tätigkeit nachgehen. Eine nichtökonomische Aktivität liegt aber nur dann vor, wenn die Tätigkeit der betreffenden Organisation ausschließlich sozialen Charakter trägt, also eine soziale Aufgabe erfüllt, die auf dem Grundsatz der Solidarität beruht, die Leistungen für alle Empfänger gleich sind, die Höhe der Beiträge vom Einkommen abhängt und ein Umverteilungseffekt vorhanden ist, der finanziell und gesundheitlich benachteiligte Personen schützt. Zudem muss die Organisation auf einer gesetzlich definierten Grundlage agieren und vom Staat kontrolliert werden.

Die Vereinbarkeit von deutschem Kollektivvertragsrecht und europäischem Marktrecht ist demnach nur so lange gegeben, wie die Krankenkassen keine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben, sondern eine soziale Aufgabe wahrnehmen und daher nicht als Unternehmen im Sinne des europäischen Marktrechts anzusehen sind.

Je stärker die Privatisierung von Behandlungskosten und Versicherungsformen in der GKV vorangetrieben wird, desto wahrscheinlicher wird es, dass die europäische Rechtsprechung den gesetzlichen Krankenkassen den sozialen Charakter abspricht.

Wird der soziale Charakter der GKV durch eine Fortsetzung des umrissenen Reformtrends weiter ausgehöhlt, könnte sie auf diese Weise unter den Unternehmensbegriff des EU-Wettbewerbsrechts fallen. Zwar bliebe in diesem Fall immer noch die Option, kollektivvertragliche durch staatliche Regelungen zu ersetzen, da die Gestaltung der Gesundheitssysteme nach EU-Recht in die Zuständigkeit der EU-Mitgliedstaaten fällt. Allerdings wäre eine solche Entwicklung angesichts der obwaltenden Tendenz in der Politik, staatliche Regelungen eher zu reduzieren, nicht eben wahrscheinlich. Insofern könnte ein weiteres Anziehen der Privatisierungsschraube – vermittelt über das europäische Wettbewerbsrecht – einen qualitativen Wandel des gesamten Steuerungssystems in der Gesundheitspolitik nach sich ziehen. Dies sollte bei der bevorstehenden Reform der GKV-Finanzierung nicht außer Acht gelassen werden.

Rolf Rosenbrock, Jahrgang 1945, ist Professor für Gesundheitspolitik an der Technischen Universität Berlin und Leiter der Forschungsgruppe „Public Health“ am WZB. rosenbrock@wz-berlin.de