"Zwei-Klassen-Medizin" oder "Mediziner Zweiter-Klasse"?

Zur Diskussion um unterschiedliche Arzthonorare in der GKV und PKV

2006 +++ Peter Wigge +++ Quelle: GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 2/06 - Februar 2006 - Seite 14-15

Die Gesundheitsministerin ist seit Januar 2001 im Amt und scheint offenbar nicht mit den unterschiedlichen Krankenversicherungssystemen in Deutschland vertraut zu sein. Ihre Forderung, dass alle medizinischen Leistungen gleich honoriert werden sollten "egal, ob sie für einen privat oder einen gesetzlich versicherten Patienten erbracht werden", verkennt den ordnungspolitischen Rahmen, den bereits die Verfassung an die medizinische Versorgung kranker Menschen in Deutschland stellt. Die ärztliche Versorgung erfolgt zumindest im ambulanten Bereich traditionell durch freiberuflich tätige Ärzte, die wie Rechtsanwälte, Steuerberater, Architekten ihre Leistungen auf der Grundlage einer staatlich vorgegebenen Gebührenordnung abrechnen. Die Gebührenbemessung ist dabei keineswegs in das Belieben des Staates gestellt, sondern hat sich an dem Grundsatz der Angemessenheit auszurichten. Sie ist dementsprechend auch in der Zukunft den veränderten Rahmenbedingungen anzupassen. Rechtsanwälte erhielten im Rahmen der Einführung des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes (RVG) im Jahre 2004 als Inflationsausgleich eine ca. 20-prozentige Honoraranhebung. Demgegenüber wartet die Ärzteschaft bereits seit mehr als 10 Jahren vergeblich auf eine entsprechende Novellierung der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ).

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat es deshalb als zulässig angesehen, dass Ärzte bei der Abrechnung ihrer Leistungen den ihnen von der GOÄ eingeräumten Gebührenrahmen ausschöpfen. Das BVerfG sieht einen verfassungsrechtlich relevanten Verstoß, wenn einem Arzt gebührenrechtlich zugemutet wird, für die "Erbringung überdurchschnittlich qualifizierter und zeitaufwändiger Leistungen unterhalb der Grenze einer angemessenen Vergütung zu arbeiten oder seine Leistung dem vorgegebenen Rahmen 1 bis 3,5 anzupassen." (BVerfG, vom 25. Oktober 2004-1 BvR 1437/02). Einschränkungen des Rechts zur Entgeltforderung sind daher verfassungsrechtlich nur dort im Sinne mit der Berufsfreiheit in Art. 12 Abs. 1 Grundgesetz vereinbar, wo die Gebührenordnung dem Gemeinwohlbelang eines Ausgleichs der berechtigten Interessen der Leistungserbringer und der Patienten dient. Dies kann man bei den etwa 10 Prozent privat krankenversicherten Personen in der Bundesrepublik aufgrund ihres Einkommens mit gutem Gewissen verneinen.

Mit diesem privatrechtlich organisierten und dienstvertraglich geprägten Arzt-Patienten-Verhältnis ist das Versorgungssystem der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) nicht zu vergleichen. Wie es das BVerfG formuliert, besteht im Bereich der GOÄ bereits nicht dieselbe Interessenlage wie im System der GKV, "das im Hinblick auf die soziale Schutzbedürftigkeit der Versicherten und die Sicherstellung ihrer Versorgung Marktmechanismen weitgehend ausschaltet, von dessen Stabilität die Leistungserbringer aber gleichzeitig profitieren, weshalb sie auch in erhöhtem Maße der Einwirkung sozialstaatlicher Gesetzgebung unterliegen." Auch wenn der Anteil der GKV-Versicherten mittlerweile mehr als 88 Prozent an der Gesamtbevölkerung ausmacht, handelt es sich um ein staatliches (Ver-)Sicherungssystem, welches wie die gesetzliche Unfall- und Rentenversicherung einem Finanzierungsvorbehalt unterliegt. Gemäß § 71 SGB V fordert der Grundsatz der Beitragssatzstabilität eine Koppelung der Ausgaben an die beitragspflichtigen Einnahmen der Versicherten. Da diese in den vergangenen Jahren im Gegensatz zu den Ausgaben nicht gestiegen sind, hat das zur Verfügung stehende Vergütungsvolumen in den letzten Jahren stetig abgenommen statt zugenommen. Die letzte Reform des Einheitlichen Bewertungsmaßstabes (EBM) hat daher insgesamt keine Einkommenszuwächse für die Vertragsärzte mit sich gebracht.

Die Entwicklung der Honorare für Vertragsärzte in der GKV ist besorgniserregend. Insbesondere im Bereich der geräteintensiven Medizin, wie der Radiologie, müssen häufig ärztliche Leistungen unterhalb der tatsächlichen Gestehungskosten durchgeführt werden. Hier dient der Anteil der privat krankenversicherten Patienten als Quersubventionierung, um die Wirtschaftlichkeit von Praxen überhaupt aufrechtzuerhalten und Geräteinvestitionen und deren Refinanzierung in der Zukunft vornehmen zu können. Dieser Umstand kommt auch den GKV-Versicherten zugute, da z. B. die Durchführung einer modernen Kernspintomographieuntersuchung zu den Vergütungssätzen der GKV wirtschaftlich nicht mehr tragbar ist.

Die ständigen staatlichen Eingriffe des Gesetzgebers in die Beitragsverwendung, die zunehmende Aufblähung des Verwaltungsapparates und die schleichenden Leistungsausgrenzungen, insbesondere durch Leviathane wie den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), haben die GKV seit dem Gesundheitsstrukturgesetz von Horst Seehofer aus dem Jahre 1993 von einer Standardversicherung mit gutem Leistungsniveau in eine Staatsmedizin mit zunehmender Mangelverwaltung verändert. Auch wenn die GKV-Krankenversicherung, wie es das BVerfG ausdrückt "nur Standard-Leistungen als notwendig und geschuldet zur Verfügung" stellt, hat dies in der Vergangenheit nicht eine "Zwei-Klassen-Medizin" zur Folge gehabt. Heute werden sowohl Versicherte als auch Ärzte durch dieses System extrem benachteiligt, da trotz hoher Beitragsbelastung kein adäquater Versicherungsschutz mehr zur Verfügung steht, weil die Politik sich bisher nicht zu einer umfassenden Finanz- und Organisationsreform der GKV entschließen konnte.

Diese Versäumnisse aufgrund der drohenden Einnahmeverluste auf dem Rücken der privatärztlichen Gebührenordnung austragen zu wollen, wie dies die Bundesgesundheitsministerin, Ulla Schmidt, und Prof. Karl Lauterbach fordern, stellen eine staatliche Inanspruchnahme dar, die keiner anderen Berufsgruppe in diesem Land zugemutet wird. Der aufkommende Ärztemangel in Deutschland ist jedenfalls überwiegend die Folge einer solchen Gesundheitspolitik.