Bedrohte Art: Ärztliche Freiberuflichkeit in Theorie und Praxis

Gemeinwohlaufgabe vs. Berufsfreiheit

2006 +++ Quelle: Niedersächsiches Ärzteblatt (nä) 05/2006, aktualisiert am: 02.05.2006, www.buschtelefon.de

Bekanntlich lautet ein verbreitetes Urteil: Politiker sagen eher selten, was sie wirklich denken. (...) jedenfalls gibt es auch Ausnahmen. Dazu zählt eine Äußerung der Bundesministerin für Gesundheit und Soziale Sicherung vom 21. Juli 2003. Im Rahmen einer Pressekonferenz der SPD im Willy-Brandt-Haus führte sie bei der Vorstellung der "Eckpunkte der Konsensverhandlungen zur Gesundheitsreform" wörtlich aus: Man müsse "endlich Schluss machen mit der Ideologie der Freiberuflichkeit". Nun ist es stets bereits verdächtig, wenn Ideologen andere der Ideologie bezichtigen. Vor allem aber zeigt das Zitat, auf welchem geistigen Nährboden die so genannte Gesundheitsreform aus dem Jahre 2003 erwachsen ist. Die Bemerkung der Bundesministerin, mit der offensichtlich besonders die beruflichen Rahmenbedingungen für Vertragsärzte gemeint waren, bringt eine Diffamierung des Freien Berufs an sich zum Ausdruck. Sie missachtet zugleich die große Bedeutung, welche die Tätigkeiten von Freiberuflern als klassischen Mittelständlern für unser Gemeinwesen besitzen.

Freie Berufe sind bekanntlich als eigenständige Berufsgruppe im frühliberalen Staat entstanden. In diesem waren Staat und Gesellschaft konzeptionell getrennt und der wirtschaftspolitische Grundsatz des Laissez Faire bestimmend. Die Forderung nach "Freiheit vom Staatszwang" ist als Reaktion auf die gesteigerte staatliche Inpflichtnahme insbesondere der Berufe der Ärzte und Rechtsanwälte zu Ende des 18. und Beginn des 19. Jahrhunderts zu verstehen. Der seinerzeitige Kampf um die "Freiheit vom Staatszwang" ist heute im Gesundheitswesen aktueller denn je. (...)

Die stetige Zunahme der Restriktionen zu Lasten insbesondere der Ärzteschaft steht naturgemäß in einem Spannungsverhältnis zur Freiberuflichkeit, die - entgegen der Meinung der Gesundheitsministerin - keineswegs eine disponible Ideologie bedeutet. Denn noch immer spricht das Fünfte Buch des Sozialgesetzbuches (SGB V) gerade in Bezug auf die Vertragsärzte ausdrücklich von den "Grundsätzen der Ausübung eines freien Berufes". Die gesundheitspolitischen Ziele der Gesundheitsministerin lassen sich aber offenbar nur verwirklichen, wenn diese Freiberuflichkeit geopfert wird. Spätestens dann wäre der Weg frei zur vollständigen Sozialisierung der vertragsärztlichen Tätigkeit. Und gerade darin liegt das grundsätzliche Problem, mit dem niedergelassene Ärzte konfrontiert werden, die ihre Leistungen im Rahmen der GKV erbringen.

Zur Typologie des Freien Berufs
Typische Merkmale des Freien Berufs sind der persönliche Einsatz bei der Berufsausübung, die Erwartung altruistischer Berufseinstellung, das besondere Vertrauensverhältnis zum Patienten, die Eigenverantwortung bei der Berufsausübung und die wirtschaftliche Selbständigkeit in der Berufsstellung. Dabei handelt es sich um Tugenden, die ansonsten in politischen Sonntagsreden gerne als Leitbilder genannt werden. Im Jahre 1980 etwa hatte der Deutsche Bundestag in einer einstimmig angenommenen Entschließung formuliert, die Freien Berufe erbrächten "unentbehrliche Dienstleistungen für den einzelnen Bürger und die Volkswirtschaft" und trügen so "wesentlich zur Erhaltung und Sicherung des Freiheitsraumes und damit auch zur Lebensqualität des Einzelnen bei". Wenn es allerdings um die GKV geht, scheinen diese Lobpreisungen in Vergessenheit geraten zu sein. Es ist bezeichnend, dass die Debatte um eine vermeintliche soziale Gerechtigkeit längst die Diskussion über den Wert der Freiheit in unserem Land verdrängt hat. Dringend geboten sind eine Renaissance der Freiheit und eine Rückbesinnung auf das durch die Verfassung geschützte Grundrecht der Berufsfreiheit. Eine Tendenz in diese Richtung lassen der Koalitionsvertrag und die konstanten Aktivitäten der Bundesgesundheitsministerin in diesem Bereich jedoch schmerzlich vermissen. Dabei hatte doch die Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung nach ihrer Wahl 2005 dem Volk versprochen, mehr Freiheit in unserem Land wagen zu wollen.

Das Bedrohungspotential der Politik
Gerade die Vertragsärzte sehen sich jedoch in ihrer Berufsfreiheit seit langem bedroht. Immer neue GKV-Kostendämpfungsgesetze haben über die Jahre zu immer stärkeren Reglementierungen ärztlicher Tätigkeit geführt. Zur Rechtfertigung der damit verbundenen Grundrechtseingriffe bezog sich der Gesetzgeber - entweder ausdrücklich oder zumindest der Sache nach - stets auf die Sicherung der finanziellen Stabilität der GKV. Dieser Aspekt hat auch Eingang in zahlreiche Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gefunden. Der Erste Senat bezeichnete in einem Beschluss aus dem Jahre 1984 die "Sicherung der finanziellen Stabilität" der GKV - allerdings ohne Begründung - als "eine Gemeinwohlaufgabe, welche der Gesetzgeber nicht nur verfolgen darf, sondern der er sich nicht einmal entziehen dürfte"; ihr diene die Kostendämpfung im Gesundheitswesen (BVerfGE 68, 193, 218). In der konkreten Entscheidung rechtfertigte das Gericht auf diese Weise die Herabsetzung von Vergütungen für zahntechnische Leistungen.

In neueren Senats- und Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts findet sich die Formel von der "Sicherung der finanziellen Stabilität und damit der Funktionsfähigkeit der GKV als einem Gemeinwohlbelang von hinreichendem Gewicht" (siehe BVerfGE 103, 172 [184]; BVerfG, DVBI. 2002, 400 [401]). Diese stereotyp wiederholte, nie näher begründete Formel diente zur Rechtfertigung erheblicher Grundrechtseingriffe zu Lasten von Leistungserbringern: Ob es (...) um die Rechtfertigung einer Altersgrenze für den Zugang zur vertragsärztlichen Tätigkeit oder die vom Gesetzgeber wieder eingeführten Zulassungsbeschränkungen für Vertragsärzte wegen vermeintlicher Überversorgung ging - stets zogen die bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidungen die Sicherung der finanziellen Stabilität der GKV als entscheidendes Argument für die Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Vorschriften heran.
Die Sicherung der Funktionsfähigkeit der GKV ist damit zum Dreh- und Angelpunkt der verfassungsgerichtlichen Überprüfung von Eingriffen in Grundrechte der Leistungserbringer geworden. Diffizil begründete, sich nicht selten auf über hundert Seiten erstreckende Verfassungsbeschwerden scheitern somit regelmäßig an der immer gleichen - letztlich auf einen Satz reduzierten - Verfassungsauslegung des Bundesverfassungsgerichts.

Es gehört zu den vornehmen Aufgaben der Wissenschaft, Dogmen zu hinterfragen - auch wenn diese vom höchsten deutschen Gericht stammen. Der Hauptkritikpunkt an der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts besteht in folgendem Hinweis: Mit der Verabsolutierung der Bedeutung der Sicherung der finanziellen Stabilität und damit der Funktionsfähigkeit der GKV sowie der Zuerkennung eines Vorrangs gegenüber insbesondere dem Grundrecht der Berufsfreiheit von Leistungserbringern wird der GKV faktisch ein Verfassungsrang zuerkannt. Dieser aber besteht eindeutig nicht. So stellte etwa die frühere Bundesverfassungsrichterin Renate Jaeger, die als Berichterstatterin für Fragen des Berufsrechts über viele Jahre die Rechtsprechung des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts nachhaltig beeinflusst hat, in einem Vortrag (...) im Jahre 2002 fest: "Das Grundgesetz schützt kein System der gesetzlichen Krankenversicherung. Die gesetzliche Krankenversicherung ist kein Institut mit Verfassungsrang." (...)
Wenn der Gesetzgeber aber mit seinen Regelungen des Rechts der GKV über so viele Jahre erkennbar versagt und der Bedeutung insbesondere des Grundrechts der Berufsfreiheit nicht gerecht wird, ist es die Aufgabe und Pflicht des Bundesverfassungsgerichts, ihn zur Wahrung der Verfassung zu korrigieren und damit in die Schranken zu weisen.

Dass dies leider nicht geschehen ist, lässt sich besonders deutlich am Beispiel der Frage nach der Angemessenheit vertragsärztlicher Vergütungen als Folge der zahlreichen Kostendämpfungsmaßnahmen im Recht der GKV aufzeigen. Schon seit langem bestehen erhebliche Zweifel daran, ob nach den vielfältigen Reglementierungen in Reformgesetzen jüngerer Zeit überhaupt noch von einer angemessenen Vergütung von Vertragsärzten gesprochen werden kann. Das SGB V regelt ausdrücklich, dass die vertragsärztliche Versorgung im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften und der Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses durch schriftliche Verträge der Kassenärztlichen Vereinigungen mit den Verbänden der Krankenkassen und andere so zu regeln ist, dass die ärztlichen Leistungen angemessen vergütet werden.

In Auslegung dieser "einfachgesetzlichen" Vorschrift und unter gleichzeitiger Verkennung des Grundrechts der Berufsfreiheit geht der Sechste Senat des Bundessozialgerichts in ständiger Rechtsprechung davon aus, ein Vertragsarzt habe (regelmäßig) keinen Rechtsanspruch auf eine angemessene Vergütung seiner Tätigkeit; er habe vielmehr nur einen Anspruch auf eine angemessene Teilhabe an der Verteilung der Gesamtvergütung. Damit wird die Konsequenz in Kauf genommen, dass bei einer unangemessen niedrigen Gesamtvergütung und einer immerhin angemessenen Teilhabe an der Verteilung dieser Gesamtvergütung - mit anderen Worten: bei der Verteilung des Mangels - kein Rechtsanspruch von Vertragsärzten auf eine angemessene Vergütung der einzelnen Leistungen besteht. Das Bundesverfassungsgericht stellte aber bereits im Jahre 1993 speziell in Bezug auf Konkursverwalter fest, die grundrechtlich geschützte Freiheit, einen Beruf auszuüben, sei "untrennbar verbunden mit der Freiheit, eine angemessene Vergütung zu fordern". Dem trägt die Gesetzgebung bereits seit Jahren nicht hinreichend Rechnung. Beispielhaft zu nennen sind die zahlreichen und langjährigen Budgetierungen der Gesamtvergütungen, der stete Verfall der Punktwerte für die vertragsärztlichen Leistungen sowie die im so genannten Beitragssatzsicherungsgesetz von 2002 für das Jahr 2003 festgelegten "Nullrunden" bei den vertragsärztlichen Vergütungen.

Ein Gesetzgeber, der den Grundsatz der Beitragssatzstabilität in der GKV zu Lasten der Angemessenheit der Vergütung von Leistungserbringern verabsolutiert und sich zugleich einer wirklichen Strukturreform entzieht, die die Prinzipien von Wettbewerb und Eigenverantwortung stärkt, verstößt meines Erachtens gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Berufsausübungsregelungen, die unangemessene Vergütungen von Vertragsärzten bewirken, sind weder erforderlich noch zumutbar.

Das "Übel Sachleistungsprinzip"
Letztlich liegt die Wurzel für dieses und andere Übel im so genannten Sachleistungsprinzip. Dieses Prinzip wird "als tragende Säule, als Ursache für das Entstehen von Rechtsbeziehungen zwischen Ärzten und Kassen" angesehen. Es bedeutet in diesem Verständnis eine notwendige Bedingung für die Existenz des Vertragsarztrechts an sich. Nach den einschlägigen sozialgesetzlichen Bestimmungen müssen die Krankenkassen den Versicherten ärztliche Behandlung zur Verfügung stellen; insoweit hat der Gesetzgeber eine staatliche Aufgabe begründet. Die Krankenkassen (...) bedienen sich zur Erfüllung ihrer Verschaffungspflicht regelmäßig der Vertragsärzte als Freiberufler. Dieser Umstand führt zu einem "Vertragsarztsystem", das die Beziehungen der Krankenkassen zu Ärzten und damit unter anderem deren Verpflichtung zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung regelt. Das Sachleistungsprinzip hat auf diese Weise insbesondere Regelungen der Berufsausübung von Ärzten mit teilweise erheblicher Wirkungsintensität zur Folge. Besonders schwerwiegend unter dem Gesichtspunkt der Berufsfreiheit ist das Erfordernis einer eigenständigen Zulassung als Vertragsarzt (vgl. § 95 SGB V). Dieses wirkt sich für einen niedergelassenen Arzt regelmäßig wie eine zur Approbation hinzutretende zweite Berufszulassung aus. Denn etwa 90 Prozent der Bevölkerung sind bekanntlich in den Versicherungsschutz durch die GKV einbezogen. Das Sachleistungsprinzip bedarf aus den genannten verfassungsrechtlichen Gründen einer Rechtfertigung. Es muss erforderlich sein, um der Verfassung gerecht zu werden. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach einer möglichen Alternative - etwa dem Kostenerstattungsprinzip, das für die private Krankenversicherung charakteristisch ist. Nach Letzterem schuldet die Krankenversicherung den Versicherten lediglich die Erstattung der durch die Inanspruchnahme ärztlicher Behandlung entstandenen Kosten. Eine generelle Anwendung des Kostenerstattungsprinzips auf die GKV hätte zur Folge, dass die Krankenkassen die ärztliche Behandlung ihren Versicherten nicht mehr zur Verfügung zu stellen hätten; insoweit bestünde dann keine staatliche Aufgabe mehr. Von einem solchen Schritt ist die Politik aber noch weit entfernt. (...)

Das Eigenverantwortungspostulat des SGB V
Der Hauptgrund für das Festhalten am Sachleistungsprinzip dürfte staatlicherseits darin liegen, den finanziellen Aufwand für die GKV durch unmittelbare Einflussnahme der Krankenkassen auf die Festlegung zu gewährender Leistungen und die diesbezüglichen Vergütungen zu steuern. Entgegen einer verbreiteten Auffassung bedarf es aber zur Kostensteuerung nicht des Sachleistungsprinzips. Im Gegenteil. Bei genauerem Hinsehen ist es gerade dieses Prinzip, dass die Finanzierbarkeit der GKV gefährdet. Es muss sogar als wesentliche Ursache für deren Probleme angesehen werden. Es bietet nämlich den Versicherten keine wesentlichen Anreize für eine sparsame Inanspruchnahme der Leistungen. Vielmehr fördert es die Bereitschaft der Versicherten zu der aus ihrer Sicht optimalen Nutzung der - vielfach hohen - Versicherungsbeiträge. Die Einführung des Kostenerstattungsprinzips auf Grund von Rechnungen der Leistungserbringer in Verbindung mit Sparsamkeitsanreizen wie der Einführung von Selbstbehalten der Versicherten bei gleichzeitiger deutlicher Senkung der Krankenkassenbeiträge könnte der durch das Sachleistungsprinzip begünstigten "Null-Tarif-Mentalität" vieler Versicherter entgegenwirken. Damit kann die Verwirklichung der Zielsetzung in § 1 Satz 2 SGB V gefördert werden: Danach sollen die Versicherten unter anderem "durch eine gesundheitsbewusste Lebensführung" dazu beitragen, "den Eintritt von Krankheit und Behinderung zu vermeiden". Wer sein Leben nicht gesundheitsbewusst führt, wird seiner Eigenverantwortung nicht gerecht.