Priorisierung von Gesundheitsleistungen: Die beste Medizin für alle - um jeden Preis?

Die wirksamste Medizin für alle - um einen begrenzten, aber gerechten Preis!

2006 +++ Michael Rosenberger +++ Quelle: Deutsches Ärzteblatt 103, Ausgabe 12 vom 24.03.2006, A-764 / B-646 / C-626 (Internet)

Die ethische Gestaltung des Gesundheitssystems angesichts begrenzter Mittel

Nicht wenige folgern aus dem in der allgemeinen Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen formulierten „Grundrecht auf medizinische Versorgung“ ein Menschenrecht auf Maximalversorgung. Doch ist unbestritten, dass alle Menschenrechte, sogar das Grundrecht auf Leben, im Konfliktfall zugunsten anderer gleich- oder höherwertiger Grundrechte zurückgestellt werden können und müssen.

(...) unter Sozialethikern unumstritten ist, dass sich alle Modelle am Maßstab der Gerechtigkeit messen lassen müssen. Klassisch wird strukturelle Gerechtigkeit definiert als jener Zustand, der garantiert, dass jeder das Seine zum Gemeinwohl beiträgt und jedem das Seine gegeben wird – im Rahmen der Möglichkeiten.

In diesem Zusammenhang hat Otfried Höffe einen intensiven Diskurs angestoßen, in dessen Mittelpunkt die Frage steht, welches Prinzip den Vorrang habe – die Leistungs- oder die Verteilungsgerechtigkeit. Steht Eigenverantwortung oder Solidarität an erster Stelle? Höffe selber postuliert den Primat der Eigenverantwortung.

Im Grunde plädieren alle am Diskurs beteiligten Ethiker für eine Zweistufung der Krankenversicherung:

Der Wahlversorgung zuzuordnen wären danach eindeutige Komfortsteigerungen (etwa Ein-Bett-Zimmer im Krankenhaus, Schönheitschirurgie und Wellness-Leistungen), künstliche Befruchtung, Mittel der Empfängnisverhütung und Abtreibung (soweit nicht medizinisch indiziert) und Sterbegeld.

Nicht zur Grundversorgung gehörten darüber hinaus nicht-evidenzbasierte Therapien wie die meisten Angebote der Alternativmedizin, schließlich durch gesundheitsförderndes Verhalten eindeutig (!) vermeidbare Therapien wie Zahnersatz oder die Behandlung nach einem Unfall, der sich bei Ausübung einer Risikosportart ereignet hat.

Somit bleiben für die Grundversorgung alle prophylaktischen und therapeutischen Maßnahmen gegen Krankheiten, die die normalen altersentsprechenden Lebensvollzüge eines Menschen signifikant einschränken und damit so genannte DALY (disability adjusted life years) produzieren – Lebensjahre, die mit spürbaren Einschränkungen verbunden sind, im Extremfall mit der Totaleinschränkung, dass sie gar nicht mehr gelebt werden.

Die Frage, welche Priorisierung mit begrenzten Mitteln die aufs Ganze gesehen optimale Wirkung ermöglicht, leitet mit Erfolg seit Jahrzehnten die Strategie der Notfallmedizin bei Massenunfällen und die Allokationssysteme der Organtransplantation. Diese empfiehlt sich analog auch für die Priorisierung der Leistungen einer zukunftsfähigen Grundversicherung im Gesundheitswesen. Sie ist transparent, rational und gerecht.

Darüber hinaus kommt ein zusätzlicher Vorteil hinzu, den die WHO sich seit gut zehn Jahren zunutze macht: Die Berechnung von medizinischen Kosten-Nutzen-Verhältnissen ermöglicht es, die Gesundheitspolitik insgesamt auf solide Füße zu stellen. So lassen sich globale Strategien entwickeln, welche Krankheiten (auch mit internationaler Hilfe) zuerst bekämpft werden müssen – jene nämlich, die die geringsten Kosten zur Vermeidung von „disability adjusted life years“ (DALY) aufweisen. So kostet etwa eine Tetanusimpfung in den Entwicklungsländern nur etwa 3,5 US-$, Hygieneaufklärung 20 US-$ und Malariaprophylaxe 50 US-$ pro vermiedenen DALY. In den Industrieländern hingegen schlagen die flächendeckende Mammographie ab dem 40. Lebensjahr mit 150 000 $, die Installation von Rauchmeldern in öffentlichen Gebäuden mit 240 000 $ und der Betrieb eines Radioaktivitätskontrollsystems mit 834 000 $ pro vermiedenen DALY zu Buche (Internet). Was in diesem Zusammenhang globale Gerechtigkeit bedeutet, liegt auf der Hand.

Die beste Medizin für alle – um jeden Preis! So tönen noch immer die Parolen vieler Politiker. Die wirksamste Medizin für alle – um einen begrenzten, aber gerechten Preis! Wäre das nicht sinnvoller?