Für eine realistische Europa-Debatte

Der Binnenmarkt ist eine Wohlstandsmaschine ersten Grades

2006 +++ Jan Techau +++ Quelle: Internationale Politik, Dezember 2006 (Internet)

Auszüge

16 Jahre nach Erlangung der vollen staatlichen Souveränität zeigt die außenpolitische Debatte der Bundesrepublik vor allem eines: die fundamentale Unreife der öffentlichen Auseinandersetzung über die zentralen Herausforderungen der nächsten Jahre. Diese manifestiert sich besonders in der unrealistischen Diskussion um die deutsche Europa-Politik.

Das Land und seine Bevölkerung, ja sogar weite Teile der politischen Elite sind noch nicht angekommen in einer Situation, die einerseits geprägt ist von der latenten Bedrohung der Freiheit durch die Feinde der offenen Gesellschaft und andererseits von dem massiven Druck, den die Globalisierung auf das deutsche Wohlstandsmodell ausübt. Sichtbaren Niederschlag findet diese Unreife zum einen in der (fehlenden) Debatte um die Auslandseinsätze der Bundeswehr, in der Bevölkerung und Teile der Entscheider noch immer davon ausgehen, dass Deutschland mit Berechtigung eine Sonderrolle spielen und die Bundeswehr von echten Kampfeinsätzen mit ihren furchtbaren Risiken ferngehalten werden kann. Vor allem aber zeigt sie sich in der weitgehend unrealistischen Diskussion um die deutsche Europa-Politik.

Europa ist kein Selbstzweck mehr
Deutschland muss lernen, dass die europäische Integration kein Selbstzweck mehr ist, sondern einem nüchternen, funktionalen Kalkül entspringt. Wie jedes politische System hat Europa sich vor allem an seiner Nützlichkeit messen zu lassen, d.h. an seiner Fähigkeit, die praktischen politischen Probleme der Bürger Europas zu lösen.

Deutschland muss erkennen, dass das automatisierte Abtreten nationaler Gestaltungsmöglichkeiten Richtung Brüssel die erforderlichen Ergebnisse nicht erbringen wird. Erzielt werden diese Ergebnisse nur durch eine starke deutsche Position, die sich dem Wettstreit der politischen Ideen stellt. Nicht mehr Selbstaufgabe, sondern Selbstbehauptung ist erforderlich. Dies erfordert eine klare Definition deutscher Interessen, den Willen zum Kampf um Mehrheiten für diese Ideen, die Bereitschaft zum Kompromiss und eine gehörige Portion Skepsis gegenüber Brüsseler Automatismen. Mit der gemütlichen Ersatzreligion früherer Zeiten hat dies nichts mehr zu tun.

Vergesst die Verfassung!
Das Scheitern der Verfassung ist nicht das zentrale Zukunftsproblem Europas. Der integrationspolitische Nettogehalt des Entwurfs ist nicht sonderlich hoch und hätte die faktische politische Krise Europas kaum beseitigt.2 (Abgesehen davon, dass man sich fragt, was die Staaten Europas davon abhält, die dort einstimmig vereinbarten neuen Regularien bereits jetzt in die Tat umzusetzen.) Die Erwartungen an die Verfassung waren und sind viel zu hoch. Schlimmer noch: Die Verfassungsdebatte ist ein weiteres Beispiel für die eigentliche, die politische Krise Europas – statt über die zentralen Zukunftsprobleme der EU Einigkeit zu erzielen, statt über geeignete Maßnahmen zu streiten und alles daran zu setzen, einen gemeinsamen politischen Willen herbeizuführen, hat die politische Elite Europas mit der Verfassung eine Scheindebatte geführt, deren vorrangiges Ziel es ist, von der fundamentalen Uneinigkeit der 25 abzulenken.

Das Projekt Europa wird dann vorankommen, wenn die Mitgliedsstaaten sich zusammenraufen, um die zentralen, fast übergroßen Zukunftsthemen Europas gemeinsam anzupacken. Hierzu gehören die Folgen des demographischen Wandels, die strukturelle Schwäche der europäischen Volkswirtschaften, die angesichts von Globalisierung suizidal zu nennende Tendenz zur Renationalisierung im Binnenmarkt („nationale Champions“), die fundamentale Krise im Bildungswesen in fast ganz Europa, die versorgungstechnischen und politischen Abhängigkeiten im Bereich Energieversorgung, der nicht einmal ansatzweise vollzogene Wandel von Immigrations- zu Integrationsgesellschaften und nicht zuletzt die große Ungewissheit der Europäer gegenüber ihrer eigenen Identität und ihren eigenen Werten. Die Verfassung gehört nicht zu diesem Katalog, und je länger über sie debattiert wird, desto mehr Zeit und Kraft gehen für das verloren, was eigentlich zählt.

Verteidigt den Binnenmarkt!
Der Binnenmarkt ist eine Wohlstandsmaschine ersten Grades. Neben den Struktur- und Regionalfonds ist es vor allem der Binnenmarkt, der die Mitgliedschaft in der EU attraktiv macht und aus dem Europa seine ordnungspolitische Gestaltungskraft gegenüber Mitgliedskandidaten und Handelspartnern ableitet. Wer den Binnenmarkt in Frage stellt und damit die vielgerühmte Soft Power der EU unterminiert, der braucht über Fortschritte in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und über eine reanimierte Lissabon-Strategie erst gar nicht zu reden.

Doch der Binnenmarkt taugt nicht für ideologische Nabelschau, denn die EU kann es sich nicht leisten, bei der Stärkung der Hauptstütze ihrer Weltgeltung Zeit zu verlieren. Eine Rückkehr zu nationalen Egoismen im vergemeinschafteten Bereich wäre fatal und angesichts eines sich verschärfenden globalen Wettbewerbs geradezu aberwitzig. Der Binnenmarkt muss gestärkt und ausgeweitet werden (z.B. im Energiesektor und im von Deutschland zäh verteidigten öffentlichen Bankensektor). Und er muss auch qualitativ weiterentwickelt werden. Liberale und entschlackte Modelle wie die von Gordon Brown, der anmahnt, den Binnenmarkt nicht nur als Binnenverhältnis der Mitgliedsstaaten zueinander, sondern als Instrument der globalen Positionierung der EU zu betrachten,4 und die in unregelmäßigen Abständen wiederkehrende Idee einer Transatlantischen Freihandelszone mit Nordamerika (TAFTA)5 erscheinen im Moment nicht realisierbar, zeigen aber an, in welchen Dimensionen angesichts der enormen Herausforderungen gedacht werden muss.

Denkt Europa strategisch!
Die deutsche Europa-Debatte ist hauptsächlich mit technischen Fragen der Integration, d.h. mit den Niederungen des politischen und administrativen Tagesgeschäfts befasst. Das ist zunächst einmal gut so und für eine gewissenhafte und solide Außenpolitik unentbehrlich. Was Deutschland allerdings fehlt, ist der langfristige, strategische und global vernetzte Blick auf die Europäische Union. Stattdessen hält man es für strategisch, in irrelevanten Finalitätsdebatten theoretische Modelle eines zukünftigen Europas gegeneinander abzuwägen. Dies zeugt von einem fundamentalen Missverständnis, was Größe und Bedeutung der EU, vor allem was aber die Erwartungshaltung unserer Nachbarn gegenüber der EU angeht. Die EU ist längst ein strategischer Akteur auf der Weltbühne, von dem Lösungsansätze für den Nahen Osten, für Afrika, für den freien und fairen Welthandel und in der globalen Sicherheitsarchitektur erwartet werden. Die Frage zukünftiger Beitritte (vor allem der der Türkei) sowie die attraktive Ausgestaltung einer neuen Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) können dabei nicht nur vor dem Hintergrund der internen Funktionstüchtigkeit der EU geführt werden, sondern sie müssen den Blick fest auf die geostrategischen Notwendigkeiten und langfristigen Folgen europäischer Entscheidungen richten. So ist beispielsweise auch die dringend erforderliche Anhebung der deutschen Militärausgaben in Zukunft nicht mehr zuvorderst eine Frage der deutschen, sondern vor allem eine der europäischen Leistungsfähigkeit.