Die Ordnung der Freiheit

Rede von Bundespräsident Horst Köhler beim Arbeitgeberforum "Wirtschaft und Gesellschaft" in Berlin am 15.03.2005

2006 +++ Horst Köhler +++ Quelle: Webseite des Bundespräsidenten

Auszüge:

In Deutschland sind offiziell 5,216 Millionen Menschen arbeitslos. Sie werden daher von mir keine Festrede erwarten. Zur Sache also:

Deutschland ist sich selber untreu geworden. Wir vernachlässigen schon lange das Erfolgsrezept, das der Bundesrepublik Deutschland nach dem Krieg Zuversicht und Wohlstand, Stabilität und Ansehen gebracht hat.

Damals galt in der Bundesrepublik eine Ordnung, die Leistung ermutigte und sozialen Fortschritt brachte.

Diese Ordnung ist im Niedergang, weil immer neue Eingriffe sie schleichend zersetzt haben, selbst wenn sie gut gemeint waren.

Deshalb ist die Massenarbeitslosigkeit auch kein konjunkturelles, sondern vorwiegend ein strukturelles Problem. Das alles spiegelt sich auch im Stand der Schulden und künftigen Lasten wider. Der aktuelle Schuldenstand (1,4 Billionen Euro) und die Anwartschaften in den Sozialversicherungen (5,7 Billionen) belaufen sich auf insgesamt 7,1 Billionen Euro. Das entspricht 330 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Machen wir uns wirklich klar, welche Erblast das für unsere Kinder und Enkel bedeutet?

Wir brauchen einen modernen Sozialstaat, der mit einer nachhaltigen öffentlichen Finanzwirtschaft vereinbar ist. Wir brauchen ein effizientes Steuersystem, das Leistung belohnt, aber auch dem Staat gibt, was des Staates ist. Wir brauchen einen nationalen Aufbruch für Bildung, Forschung und Familie, der unserer Gesellschaft Zukunftsglauben und Zusammenhalt gibt. Und wir brauchen die Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung, um die Reformfähigkeit unseres Landes zu stärken.

Die Ordnung der Freiheit bedeutet: Die Bürger beauftragen den Staat, die Spielregeln zu setzen. Aber das Spiel machen die Bürger. Die Regeln lauten: Privateigentum und Vertragsfreiheit, Wettbewerb und offene Märkte, freie Preisbildung und ein stabiles Geldwesen, eine Sicherung vor den großen Lebensrisiken für jeden und Haftung aller für ihr Tun und Lassen. Der moderne Sozialstaat schützt vor Not; aber er gaukelt nicht vor, dem Einzelnen den einmal erreichten Lebensstandard garantieren zu können.

Diese Menschen wollen arbeiten. Angesichts der Lage auf dem Arbeitsmarkt brauchen wir in Deutschland jetzt eine politische Vorfahrtsregel für Arbeit. Was der Schaffung und Sicherung wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze dient, muss getan werden. Was dem entgegensteht, muss unterlassen werden. Was anderen Zielen dient, und seien sie noch so wünschenswert, ist nachrangig. Am wirkungsvollsten wäre es, die Kosten der sozialen Sicherung völlig vom Arbeitsverhältnis abzukoppeln.

Die Lohnkosten sind nicht nur wegen der hohen Sozialabgaben so hoch. Mehr als die Hälfte der Lohnnebenkosten beruht auf Tarifverträgen. Zu lange wurden solche Verträge zu Lasten Dritter abgeschlossen - zu Lasten der Arbeitslosen und der Steuerzahler. Und die Arbeitgeberverbände saßen dabei immer mit am Tisch.

Von den Menschen über 55 haben in Deutschland nur noch 40 Prozent einen Arbeitsplatz, in der Schweiz dagegen sind es fast 70 Prozent. Das kann nicht an den Menschen liegen, denn so verschieden sind Deutsche und Schweizer nun wirklich nicht. Wir können es uns nicht leisten, auf das Wissen und die Erfahrung der Älteren zu verzichten.

Das deutsche Steuersystem ist kompliziert und unübersichtlich. Im aktuellen Länderranking des World Economic Forum belegt es in Sachen Effizienz bei 104 untersuchten Ländern Platz 104. Wir sind in diesem Bereich nicht wettbewerbsfähig. Politischen Mut und Hartnäckigkeit brauchen wir aber auch beim Abbau von Subventionen.

Nur mit ständig erneuertem Wissen, das wir schnell in Entwicklung und Produktion umsetzen, werden wir uns in der Welt der Globalisierung behaupten. Wir müssen um so viel besser sein, wie wir teurer sind.

Fast 9 Prozent aller Schülerinnen und Schüler - das sind jährlich rund 85.000 - bleiben ohne Abschluss. Unternehmer klagen darüber, dass immer mehr Bewerber nicht richtig rechnen und schreiben können. Unsere Schulen und Universitäten sind im internationalen Vergleich bloß noch Mittelmaß. Wie lange wollen wir noch zusehen?

An die Spitze kommt man nicht im Schlafwagen. Erfolgreiche Unternehmer suchen den Wettbewerb und wollen auch international die Besten sein. Sie wissen: Innovationen sind ihr Lebens-, ja Überlebenselixier.

Vertrauen wir also auf unser Land und arbeiten wir alle an dem großen Reformwerk mit. Wir haben das Zeug dazu, die Ordnung der Freiheit gemeinsam wieder aufzubauen. Wir schaffen es, wenn jeder mitmacht. Ich spüre überall: Die Menschen sind bereit, mitzuziehen.