"Gemeinwesen nicht zu Lasten künftiger Generationen überfordern"

Neujustierung des Verhältnisses von Solidarität einerseits und Subsidiarität und Eigenverantwortung andererseits

2006 +++ Hans-Jürgen Papier +++ Quelle: PKV Publik 5/2006, 53-54

Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Dr. Hans-Jürgen Papier, beschäftigte sich in seinem Festvortrag vor der PKV-Mitgliederversammlung mit dem Thema "Gestaltungsmöglichkeiten des Gesetzgebers im Bereich der sozialen Sicherung - Sozialpolitik zwischen Solidarität und Subsidiarität".

Nachfolgend Auszüge aus dieser viel beachteten Rede:

"Solidarität und Subsidiarität - nach meinem Verständnis handelt es sich hierbei nicht etwa um ein unvereinbares Gegensatzpaar. Richtig verstanden ergänzen sich beide Prinzipien vielmehr gegenseitig. Der Ausgangspunkt ist hierbei das Prinzip der Subsidiarität. Deren klassische und noch immer aktuelle Formel findet sich schon in der so genannten Sozialenzyklika 'Quadragesimo anno' des Papstes Pius XI. aus dem Jahr 1931, wonach ,dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf'.

Dieser Gedanke aus der katholischen Soziallehre steht durchaus im Gleichklang mit der freiheitlichen Ausrichtung des Grundgesetzes, die es der Sozialpolitik und dem Sozialgesetzgeber aufgibt, den Umfang des öffentlich-rechtlichen Sozialwesens stets neu und kritisch zu überdenken und an die aktuellen Anforderungen des sozialstaatlich gebotenen Schutzes anzupassen. Insoweit schlägt die Stunde des Prinzips der Solidarität dann - aber eben auch erst dann -, wenn der Einzelne mit einer Aufgabe überfordert ist und er deshalb der Unterstützung durch die Gemeinschaft bedarf.

Sozialstaat und Abgabenstaat

Eine derartige Aussage hat ihre Berechtigung im übrigen nicht nur mit Blick auf das freiheitliche Menschenbild des Grundgesetzes, sondern auch mit Blick auf den gerne verdrängten Zusammenhang zwischen dem Sozialstaat und seinem ungeliebten Bruder, dem Abgabenstaat.

Das in den über fünfeinhalb Jahrzehnten der Bundesrepublik Deutschland erreichte Niveau der sozialen Sicherung beruht auf einem lange Zeit stetig wachsenden Wohlstand des Landes. Aktuell auftretende oder jedenfalls geltend gemachte Wünsche und Bedürfnisse konnten hierbei aktuell befriedigt werden, weil und solange das wirtschaftliche Wachstum immer neue Finanzmittel zur Verteilung und Umverteilung nachschob. Dieser Expansion insbesondere auch des Sozialstaats ist allerdings schon seit einiger Zeit die ökonomisch-finanzielle Grundlage entzogen. Auch der - ohnehin bedenkliche - Weg über eine zunehmende Kreditfinanzierung staatlicher Aufgaben kann dies nicht länger verdecken. Damit tritt in aller Nüchternheit ein im Grunde trivialer Zusammenhang hervor: Der Sozialstaat kann nur geben, was der Abgabenstaat zuvor genommen hat, sei es über Steuern oder sei es über Sozialversicherungsbeiträge. Die Organisation und Finanzierung der sozialstaatlichen Aufgaben in der Form von Versicherungen mit Pflichtmitgliedschaft und mit den entsprechenden Beitragspflichten - wie in der gesetzlichen Krankenversicherung - sind der wichtigste praktische Anwendungsfall dieser einfachen Wahrheit. Die Gewährleistung einer sozialen Rechtsordnung hat also ihren Preis. (...)

Die zeitliche Dimension des Sozialstaatsprinzips

Bislang wurden Fragen der sozialen Gerechtigkeit vor allem - oder gar ausschließlich - als Fragen des sozialen Ausgleichs in der Gegenwart angesehen; aktuelle Sicherungsbedürfnisse wurden aktuell befriedigt. Damit einher ging über Jahrzehnte ein gewaltiger Ausbau des Sozialstaats. Unsere Gesellschaft und mit ihr der Sozialstaat haben dabei aber schon seit längerem über ihre Verhältnisse gelebt. Wenn deshalb heute die Erhaltung und die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme zu einer erheblichen Last für unser Gemeinwesen geworden sind, so ist das nur die eine Seite des Problems. Die andere Seite ist, dass diese Last zunehmend den jüngeren Menschen aufgebürdet oder auf nachkommende Generationen verschoben wird. Der Sozialstaat wird sich deshalb künftig nicht mehr nur um einen sozialen Ausgleich in der Gegenwart bemühen müssen, sondern auch um eine angemessene Lastenverteilung zwischen den Generationen. Zur bisweilen so bezeichneten ,Generation der Erben' zu gehören, wird andernfalls zu einer schwer zu schulternden Belastung. (... )

Die freiheitliche Dimension des Sozialstaatsprinzips

Der zweite Punkt betrifft einen Aspekt, den ich als die freiheitliche Dimension des Sozialstaatsprinzips bezeichnen mö.chte. Das Grundgesetz geht - ich habe das bereits dargestellt - von der Eigenverantwortung und von der Selbstbestimmung des Menschen aus, sowohl als Grundlage seiner persönlichen Entfaltung als auch als Grundlage seiner sozialen Beziehungen.

An der Spitze der Verfassung stehen deshalb das Bekenntnis zur Unantastbarkeit der Würde des Menschen und der Grundrechtekatalog mit seinen Gewährleistungen von Freiheits- und Menschenrechten. Auch die Funktion des Sozialstaats darf nicht losgelöst von dieser freiheitlichen Grundlage und Ausrichtung der Verfassung gesehen werden. Der Sozialstaat kann - und sollte - schon deshalb keine Vollversicherung und keinen Lebensplan bieten, weder für den Einzelnen noch für die Gesellschaft insgesamt. Der Sozialstaat muss den Menschen vielmehr diejenigen elementaren Risiken abnehmen; die er allein nicht tragen kann. Aber der Sozialstaat muss auch - zum Wohle des Einzelnen wie des Ganzen - seine Grenzen erkennen.

Eigenverantwortung und Sozialstaatlichkeit bilden - genauso wenig wie Subsidiarität und Solidarität - kein Gegensatzpaar. Eigenverantwortung und Sozialstaatlichkeit verbinden sich vielmehr im Prinzip der Chancengleichheit. Das Prinzip der Chancengleichheit geht von der freien Entfaltung der Bürger aus und akzeptiert Unterschiede im - beispielsweise beruflichen oder wirtschaftlichen - Erfolg. Das Prinzip der Chancengleichheit erkennt aber auch an, dass Unterschiede im Erfolg nicht nur auf Unterschieden in der Leistung und in der Einsatzbereitschaft, sondern häufig auch auf unterschiedlichen Ausgangsbedingungen beruhen. Die Herstellung von Chancengleichheit zielt deshalb auf einen gewissen Ausgleich in den Voraussetzungen, die für einen späteren Erfolg besonders wichtig sind, zum Beispiel Bildung und berufliche Ausbildung. Das Prinzip der Chancengleichheit scheint mir jedenfalls diejenige Formel zu sein, die einem Sozialstaat auf freiheitlicher Grundlage am ehesten entspricht und die die beiden Grundwerte ,Freiheit' und ,Gleichheit' miteinander ,versöhnt'.

Orientierung an ökonomischen und gesellschaftlichen Realitäten

Man hat einmal gesagt, der Sozialstaat mit seinem Kern, der Sozialversicherung, sei ein ,Geschenk des deutschen Volkes an die Welt'. Mit einem solchen ,Geschenk' wird man nicht zuletzt als Gesetzgeber vorsichtig und behutsam umzugehen haben. Die Sozialstaatlichkeit stellt auch einen wesentlichen Teil der nationalen Identität Deutschlands dar, so dass man ihre Bedeutung für den sozialen Zusammenhalt und die innere Einheit des Landes nie aus den Augen verlieren darf. Aber zu beachten gilt es auch, dass die Werte des deutschen Sozialstaats letztlich nur dann für die Zukunft bewahrt werden können, wenn sich unser Gemeinwesen an den ökonomischen und an den gesellschaftlichen Realitäten der Zeit orientiert und sich nicht hoffnungslos überfordert - gerade auch zu Lasten künftiger Generationen.

Erbe und Verpflichtung des deutschen Sozialstaats werden wir deshalb nur gerecht, wenn wir zur Veränderung bereit sind, gegebenenfalls unter Neujustierung des Verhältnisses von Solidarität einerseits und Subsidiarität und Eigenverantwortung andererseits. Inwieweit es gelingt, dies vor allem auch den Bürgern und Wählern zu vermitteln, und zwar möglichst umgehend und vollständig, wird ausschlaggebend sein auch für die politische Stabilität unseres Gemeinwesens."