Warum es auch 2006 keine nachhaltige Reform geben kann

Difficile est satiram non scribere (luvenal)

2006 +++ Eike Hovermann +++ Quelle: Gpk GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr.7+8/06 (Juli/August2006), S. 5-10

Einleitung

(...) Bei der immer deutlicher werdenden Stagnation unseres Wirtschaftswachstums und den damit verbundenen Begleiterscheinungen (gebrochene Erwerbsbiographien, Hartz IV, shareholder-value orientierte Massenentlassungen) hätte die Diskussion über Möglichkeiten und Grenzen unseres Sozialstaates gemäß Artikel 20 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit Artikel 115 GG wesentlich früher einsetzen müssen.

Trotz der nachweisbaren Verschuldungen der öffentlichen Hände und zum Beispiel auch der Kassen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) gibt es bislang kein nachhaltiges, strukturelles Umsteuern in der Gesundheitspolitik. Es sind ja auch immer Wahlen, und die Ministerpräsidenten wollen auch nicht so recht.

Die Folge war und ist eine durch die Politik aller bisherigen Regierungsparteien hingenommene Verschuldung, die sich mehr und mehr als der eigentliche "asoziale" Grundbaustein sowohl für das Heute wie auch besonders für die Zukunft erweist - Stichwort Generationengerechtigkeit. Lesenswert hierzu ist der Vortrag vom Präsidenten des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG), Hans-Jürgen Papier, "Der Sozialstaat aus verfassungsrechtlicher Sicht" vom Juli 2006.

Wenig hilfreich sind da auch die neuen Forderungen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) nach "mehr Geld ins System" in Höhe von 4,5 bis 5 Milliarden Euro. Solche Forderungen zeigen nichts anderes, als dass viele immer noch nicht richtig in der zukünftig bezahlbaren Realität angekommen sind oder wider besseres Wissen aus rein verbandspolitischen Interessen agieren, um wiedergewählt zu werden.

Realitätsferne Sprüche wie: "Es wird keine Leistungsausgrenzungen geben" und "jeder wird weiterhin das medizinisch Notwendige erhalten" oder gar "Reformen sind nur möglich, wenn eine double win-Situation erreichbar ist", laufen letztlich auf eine Irreführung von Bürgern hinaus. Genau solche Sprüche haben überdies zu der immensen Verschuldung der öffentlichen Hände wie auch der Kassen geführt, die bei einer rechtlichen Würdigung "illegal" waren und immer noch sind.

Zur Ausweglosigkeit der Fondslösung

Wenn im Zusammenhang mit dem Fondsmodell dann noch ein altes Ziel von Franz-Josef Knieps aus dem Jahre 2003, nämlich die Bildung eines Dachverbandes zur Straffung der Entscheidungsstrukturen realisiert wird, dann sind wir im Grunde, wenn man dazu die zentralistische Wirkung einer Fondslösung plus kassenartenübergreifenden Fusionen und Ausbau des Morbi-RSA addiert, fast schon bei einer "Reichseinheitskasse" angelangt.

Zwei Bemerkungen seien dazu erlaubt:

  1. Tatsache ist, dass wir schon seit Jahren den Artikel 115 GG unterlaufen, ebenso die europäischen Stabilitätskriterien. Die zusätzliche Netto-Neuverschuldung in 2006 spricht für sich.
  2. Wer sich näher mit der französischen Gesundheitspolitik und ihrer Finanzierung beschäftigt, weiß, dass die Kosten dort mit oder ohne Soli komplett aus dem Ruder laufen. Die Ursachen dort decken sich mit unseren in Deutschland. Und bei noch näherem Betrachten würde deutlich, dass die französischen Grundversorgungskassen nur drei Viertel der anfallenden Leistungen abdecken. Der Rest vollzieht sich über private Versicherungen.

Haben wir denn in Zukunft genügend nachhaltiges Wachstum, haben wir ausreichende Steuereinnahmen, um auf dem neuen Weg über Steuerfinanzierung die Einnahme-Ausgabe-Schere mit samt den bestehenden Regulierungs- und Verteilmechanismen im Gesundheitssystem in den Griff zu bekommen?

Die Antwort ist ganz schlicht und aus der Vergangenheit erfahrbar zu machen und lautet: Nein. Denn unser überbürokratisiertes und segmentiertes Gesundheitssystem, in dem Geld zum Beispiel nicht festen Qualitätskriterien und offen zu legenden Behandlungsresultaten zu folgen hat, ist mit den bestehenden Regulierungsvorgaben des Sozialgesetzbuches (SGB) V nicht zu modernisieren. Es können auf diesem Weg immer nur weitere Reparaturen erfolgen, nicht aber Reformen.

Wie ist die Ausgangslage?

Ich bin sicher, dass der Defizitbetrag von 7 Milliarden für 2006/2007 erneut nicht seriös ist, wenn zum Beispiel in jeglicher Konsequenz berücksichtigt werden

Was heißt das für Planungssicherheit und Verlässlichkeit?

(...) wir brauchen eine realistische Auseinandersetzung mit den - indirekten, aber umfassenden - Auswirkungen des freien europäischen Waren- und Dienstleistungsverkehrs auf unser nationales Krankenversicherungssystem.

Wie groß der Einfluss der EU bereits ist, zeigen zwei aktuelle Beispiele. Zum einen ist im Saarland zum ersten Mal einer Kapitalgesellschaft unter Verweis auf europäisches Recht eine Apothekenbetriebserlaubnis erteilt worden. Zum zweiten hat das Urteil des EuGHs im Fall Watts verdeutlicht, dass die grenzüberschreitende Patientenmobilität in Zukunft zunehmen wird und somit die nationalen Gesundheitssysteme vor weitere Herausforderungen gestellt werden.

Parallel brauchen wir die Diskussion über die Ausgestaltung einer hochwertigen Grundversorgung im Rahmen vorhandener GKV-Einnahmen plus eigenfinanzierte Zusatzpakete. Im Rahmen dieser Neujustierungen sollten wir auch in eine ehrliche Rationierungs- und Priorisierungsdebatte eintreten, die verdeckt längst geführt und exekutiert wird.

Was sagte dazu schon Niccollo Machiavelli: "Wer Neues schaffen will, hat alle zu Feinden, die aus dem Alten Nutzen ziehen."