Rückblick: Der Ärztestreik 1923/1924

Einzelverträge zwischen Ärzten und Kassen gab es (danach) nicht mehr

2006 +++ Anja Schulte-Lutz +++ Quelle: AMBULANTE CHIRURGIE, 10. Jahrgang, Heft 1/2006,15

Niedergelassene Ärzte streiken? Das gab's doch noch nie! - Solche oder ähnliche Äußerungen waren in der letzten Zeit immer wieder zu hören. Und in der Tat sind flächendeckende Streiks niedergelassener Ärzte in der Bundesrepublik bisher ohne Beispiel. Doch vor der Einführung der Selbstverwaltung waren Streiks kein ungewöhnliches Mittel zur Durchsetzung ärztlicher Interessen.

Während der Weimarer Republik protestierten die Ärzte immer wieder gegen Politik und Krankenkassen. Der größte Streik fand von Dezember 1923 bis Januar 1924 statt. Damals verweigerten die Ärzte die Behandlung allerdings nicht grundsätzlich, sondern verlangten von allen Kassenpatienten, medizinische Leistungen sofort und bar zu bezahlen.

Anlaß des Streiks war das Auslaufen des sogenannten Berliner Abkommens, das die kassenärztliche Versorgung regelte, in Kombination mit inflationsbedingten Zahlungsschwierigkeiten der Krankenkassen. Diese wirtschaftliche Misere der Krankenkassen hätten die Ärzte als Argument genutzt, sie sei aber nicht der alleinige Anlaß für den Streik gewesen, sagte Dr. Rebecca Schwoch vom Institut für Geschichte und Ethik der Medizin des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf.

"Daß wirtschaftliche Dinge in dieser Weise radikalisiert nach vorne getragen wurden und zu einen Streik geführt haben, hatte mit der gesamtpolitischen Gemengelage im Land zu tun", erklärte Gerhard Baader, Professor am Institut für Geschichte der Medizin an der Charité. So hätten die meisten Ärzte - die mit der Niederlage des Wilhelminismus im Ersten Weltkrieg auch das Gefühl einer persönlichen Deklassierung verbunden hätten - der Republik skeptisch gegenübergestanden. Zudem hätten diese konservativen Mediziner die sozialdemokratisch dominierten Krankenkassen grundsätzlich abgelehnt: Aus Sicht der Ärzte herrschten dort die "roten Bonzen".

In den Verhandlungen über die Neuregelung der kassenärztlichen Versorgung forderte die Ärzteschaft Kompetenzen der Kassen - und damit auch finanzielle Macht - für sich ein. Als sie damit scheiterte, rief der Hartmannbund, der damals die Mehrheit der Kassenärzte vertrat, zum Streik auf: Zum 1. Dezember 1923 kündigten die niedergelassenen Ärzte ihre Verträge mit den Kassen. Sie behandelten Kassenpatienten nur noch, wenn die ärztliche Leistung bar bezahlt wurde.

"Was das für die ärmeren und armen Patienten bedeutet hat, kann man sich vorstellen", sagte Schwoch. Die medizinische Versorgung der Bevölkerung geriet in Gefahr. Um ihre Mitglieder weiterhin zu versorgen, reagierten die Krankenkassen mit der Gründung sogenannter Ambulatorien: In diesen Einrichtungen behandelten Ärzte, die bei den Krankenkassen angestellt waren. "Das war natürlich ein Schlag ins Kontor, da hier die Alleinvertretung des niedergelassenen Arztes in Frage gestellt wurde", erläuterte Baader die Situation der streikenden Ärzte. In der Folge richtete sich der Protest daher auch gegen die Ambulatorien.

Bis in den Januar, in Berlin sogar bis zum 5. April 1924, hielten die Ärzte ihren Streik durch - auch dank der Streikkasse des Hartmannbundes. Beendet wurde der Konflikt erst durch das Eingreifen des Staates. Per Notverordnung legte er das Verhältnis zwischen Kassen und Kassenärzten in weiten Teilen zu Gunsten der Ärzte fest. Unter anderem wurde die Anzahl der Patienten pro Arzt erhöht und der "Reichsausschuss für Ärzte und Krankenkassen" gegründet. Mit diesem Gremium erhielt die Ärzteschaft deutlich mehr Macht: Der Hartmannbund verhandelte nun kollektiv für alle Kassenärzte. Einzelverträge zwischen Ärzten und Kassen gab es nicht mehr.