In Deutschland steht eine Debatte über Rationierung immer noch aus

Während hierzulande geschwiegen wird, redet man in England Tacheles

2006 +++ Angela Mißlbeck +++ Quelle: Ärzte Zeitung 14.11.2006

Kein neues Hüftgelenk mehr mit 85 Jahren? Einen Sturm der Entrüstung hat der Unions-Politiker Philipp Missfelder vor einigen Jahren mit diesem Vorschlag zur Leistungsrationierung im Gesundheitswesen hervorgerufen. Über Rationierung spricht man in Deutschland nicht. Anders in England. Dort wird sie offen praktiziert.

Eine Debatte über Rationierung haben die Vertreter des Nationalen Ethikrates auch für Deutschland gefordert. Sie warnen davor, dass es anderenfalls zu undurchsichtigen Leistungseinschränkungen kommen kann. Zwar gebe es in Deutschland keine so genannte explizite Rationierung. In Form von Budgets oder Finanzanreizen finde sie jedoch längst statt, sagt der Vorsitzende des Nationalen Ethikrates Professor Eckhard Nagel.

Doch warum ist es um den medizinischen Fortschritt so schlecht bestellt? "Das Hauptproblem der modernen Medizin sind nicht ihre Mängel, sondern ihre Möglichkeiten", sagt der Statistiker und Ökonom Professor Walter Krämer vom Institut für Wirtschafts- und Sozialstatistik der Universität Dortmund. Die steigenden Kosten im deutschen Gesundheitswesen gehen seiner Analyse zufolge nicht auf Preissteigerungen, sondern auf Mengensteigerungen zurück.

Eine einfache Beratung beim Arzt kostete nach Krämers Angaben 2005 lediglich drei Prozent mehr als 1975. Dagegen sei zum Beispiel die Zahl der Nierentransplantationen von 165 im Jahr 1975 auf 2189 im vergangenen Jahr um mehr als das Dreizehnfache gestiegen. Die Medizin kann immer mehr leisten. "Diese Ausweitung des Angebots wird noch verstärkt durch eine überproportionale Nachfrage", so Krämer weiter. Der Ökonom sieht die Medizin in einer "Fortschrittsfalle" gefangen. Sein Fazit: "Rationierung ist unausweichlich. Es wird höchste Zeit dieser Wahrheit ins Auge zu sehen, denn davon sind wir in Deutschland noch weit entfernt."

Wenn begrenzte Ressourcen verteilt werden müssen, stellt sich allerdings die Frage, woran sich die Mittelverteilung orientieren kann. Soll vom medizinischen Fortschritt profitieren, wer ihn selbst bezahlen kann? Das ist nicht vereinbar mit einem solidarischen Gesundheitssystem. Umstritten sind auch Rationierungskriterien wie Alter oder Selbstverschuldung einer Erkrankung. Eine neue Hüfte nur bis zum Alter von 80 Jahren? Fallschirmspringer zahlen ihr gebrochenes Sprunggelenk selbst?

Compliance der Patienten - ein Rationierungskriterium?
"Darüber wird es keinen politischen Konsens geben", sagt Bettina Schöne-Seifert. Ein "wahrscheinlich in der Klinik verdeckt angewandtes Kriterium" ist ihrer Meinung nach die Compliance des Patienten. Folglich würden Ärzte eine neue Leber lieber einem trockenen Alkoholiker zugute kommen lassen, als einem, der nach der Transplantation weiter trinkt. Lediglich drei Kriterien wären aus Schöne-Seiferts Sicht allenfalls konsensfähig in Deutschland: Dringlichkeit, Kosten-Nutzen-Verhältnis und Losverfahren oder Wartezeiten, wie sie heute bereits bei der Organtransplantation angewandt werden - einem Bereich, in dem nicht Geld, sondern der Mangel an Spenderorganen die Grenzen setzt.

Durchgesetzt hat sich im Ausland das Verhältnis von Kosten und Nutzen als Kriterium für die Bezahlung einer Leistung. Das zeigt das Beispiel Englands. Das National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE) trifft seine Entscheidungen zur Kostenübernahme durch das staatliche Gesundheitssystem, indem es die klinische und die Kosten-Wirksamkeit einer Methode oder einer Arznei beurteilt.

Bei der Kostenwirksamkeit werden nach Angaben des NICE-Vorsitzenden Professor Sir Michael Rawlins die gewonnenen Lebensjahre durch eine medizinische Intervention und die dadurch erreichte Verbesserung der Lebensqualität mit dem Preis dieser Behandlung abgeglichen. "Das eigentliche Problem, ist zu entscheiden, wann etwas kostenwirksam ist", so Rawlins. Als Kompromiss habe man sich darauf verständigt, Kostenwirksamkeit bei einer Grenze von 20.000 bis 30.000 britischen Pfund (etwa 30.000 bis 45.000 Euro) pro gewonnenes Lebensjahr anzuerkennen. "Aber das ist keine eiserne Grenze. Wir haben auch schon 48.000 Pfund genehmigt", so Rawlins.

Fazit
In England wird bereits Tacheles geredet. In Deutschland sollten Politiker öffentlich eingestehen, dass die Ressourcen im Gesundheitswesen nicht unendlich sind und deshalb nach bestimmten Kriterien verteilt werden müssen. Das fordern Ärzte seit langem. Nun haben sie Unterstützung vom Nationalen Ethikrat erhalten. Umstritten ist jedoch, anhand welcher Kriterien über die Verteilung der begrenzten Mittel entschieden werden soll. Ein Blick über die Landesgrenzen hinaus kann dafür Anregungen liefern.