Auswirkungen der Globalisierung auf die europäische Sozialpolitik

Das "Europäische Sozialmodell" in der Defensive

2005 +++ Uwe Roth +++ Quelle: Goethe-Institut (Internet)

Die Gesetzgebung der EU muss die Verträge der Welthandelsordnung mindestens ebenso berücksichtigen wie die Belange der Mitgliedstaaten. Nahezu unbemerkt ist die Globalisierung auf dem Weg, die Sozialpolitik zu vereinnahmen.

Auszüge:

Während der Abbau von Wirtschaftsgrenzen in Politik und den Unternehmen breite Unterstützung erfährt, ist der Aufbau gemeinsamer sozialer Standards mehrheitlich unerwünscht geblieben. Die sozialen Sicherungssysteme der Mitgliedstaaten folgten unterschiedlichen Traditionen, so die Argumente, und sie seien deswegen nicht zu vereinheitlichen.

"Europäisches Sozialmodell"

Innergemeinschaftlich werden die Vorteile unterschiedlicher Sozialsysteme in den EU-Ländern betont und als Stabilisierung der Wettbewerbsfähigkeit jedes einzelnen Mitgliedstaates betrachtet. Im Rahmen der Globalisierungsdebatte werden diese europäischen Unterschiede nivelliert, oder erst gar nicht wahrgenommen, und es wird generell von einem "europäischen Sozialmodell" gesprochen. Dieses wird auf die Tauglichkeit untersucht im Wettbewerb mit dem Modell der Vereinigten Staaten oder dem beispielsweise von China. Die EU-Staaten als Träger des "europäischen Sozialmodells" werden in solchen Gegenüberstellungen pauschal zu "Wohlfahrtsstaaten" ernannt.

Die Diskussion dreht sich längst um die Frage,

Globale Marktöffnung für Dienstleistungen

Es besteht die paradoxe Situation, dass die Europäer auf Weltebene mit einem Wertekanon in Bezug gesetzt werden, über dessen Zusammensetzung sie sich selbst untereinander nicht einig sind. Nicht zuletzt weil die europäische Sozialpolitik danach ausgerichtet ist, bestehende Unterschiede der nationalen Ausgestaltung der Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung zu wahren bzw. Veränderungen den Kräften des Wettbewerbs zu überlassen, aber keinesfalls zu harmonisieren.

Die Globalisierungsdebatte nimmt darauf aber keine Rücksicht. An dieser ist die Europäische Kommission stark beteiligt. Sie vertritt die Mitgliedstaaten bei den Verhandlungen der WTO. Die bereits geschlossenen Verträge sehen im Kern den Abbau von Zöllen und Importbeschränkungen vor. Nachdem dies für Waren und Agrarprodukte weitgehend passiert ist, ist nun die globale Marktöffnung für Dienstleistungen an der Reihe. Letztlich sind davon nicht nur Post, Telekommunikation, Finanz- und Ingenieurleistungen oder der Energie- und Wassersektor betroffen. Seit in Deutschland die so genannten Ich-AGs (leicht zu gründende und vom Staat geförderte Einpersonenbetriebe) populär geworden sind, kann jede Arbeitskraft als globaler Dienstleister auftreten.

Ende Januar 2005 hat EU-Handelskommissar Peter Mandelson die Forderung erhoben, in den laufenden WTO-Verhandlungsrunden (Doha-Runde) diesen Sektor verstärkt anzugehen. Nicht nur nach Ansicht der EU-Kommission, sondern beispielsweise auch der deutschen Bundesregierung ist die Möglichkeit, Dienstleistungen weltweit anbieten zu können, für die europäische Wirtschaft überlebensnotwendig. Die Baubranche und der Tourismus auf der Liste der zu öffnenden Märkte zeigen, dass wirklich jede Arbeitskraft von der Globalisierung betroffen sein kann – nicht nur eine qualifizierte, sondern auch eine ungelernte Arbeitskraft (Arbeiter, Servicekräfte usw.). Und es wird längst darüber nachgedacht, wie deren Niederlassungsrechte weltweit zu betrachten sind.

Wenig demokratische Kontrolle

Insgesamt 160 Sektoren enthält das Dienstleistungsabkommen GATS (General Agreement on Trade in Services) als Bestandteil der WTO-Verträge. GATS soll nun Schritt für Schritt umgesetzt werden. Enthalten sind unter anderem auch die Sektoren Gesundheit, Kranken- und Rentenversicherung. Damit wird deutlich, dass die EU-Bürger nicht nur als Arbeitskräfte von der Globalisierung der Dienstleistungsmärkte betroffen sind, sondern auch die sozialen Sicherungssysteme, an denen sie freiwillig oder durch ein (nationales) Gesetz als Beitragszahler und Leistungsempfänger beteiligt sind.

Da sich die Europäer selbst nicht darüber einig sind, was das "europäische Sozialmodell" im Detail ist, kommt es letztlich auf die Positionen der Kommissionsmitglieder an, mit denen sie in die WTO-Verhandlungsrunden gehen. Zumal eine Kontrolle über das Europäische Parlament nur sehr eingeschränkt möglich ist. Wie alle Parlamente hat es im Außenhandel und in der Außenpolitik wenig zu sagen. Das wird auch mit Inkrafttreten der Europäischen Verfassung so bleiben.

Uwe Roth war Korrespondent der Financial Times Deutschland in Brüssel und Straßburg und ist jetzt Politikredakteur bei Sonntag Aktuell in Stuttgart