Auszüge:
Am 2. Juni 1951 nahm Ludwig Sievers, der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft der Landesstellen der Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen), Stellung zum Stand des Gesetzgebungsverfahrens zum Kassenarztrecht.
"Ich habe den Gesetzentwurf sehr gründlich durchgesehen und bin der Meinung, dass, wenn dieser Entwurf Gesetz wird, wir allen Grund haben, uns zu freuen. "
Ehe die Krankenkassenverbände dessen gewahr wurden, hatte die Arbeitsgemeinschaft der KV-Landesstellen (seit 1953 unter dem Namen Kassenärztliche Bundesvereinigung) für eine ihr geeignet erscheinende Fassung eines Gesetzentwurfs um Kassenarztrecht gesorgt. Wichtige Voraussetzung dafür waren sehr gute persönliche Kontakte in die für Kassenarztangelegenheiten zuständige Abteilung des Bundesarbeitsministeriums.
Nach Abschluss der eher informellen Beratungen im Arbeitsministerium geriet der Gesetzentwurf sehr rasch zum Gegenstand öffentlicher Auseinandersetzung. Innerhalb der Ärzteschaft gab es Konflikte mit dem Hartmannbund, der sich als 1949 neu gegründeter freier Ärzteverband gegenüber den als zu staatsnah kritisierten KV-Strukturen zu profilieren versuchte, und dem seit 1948 eigenständig auftretenden Marburger Bund, der als Interessenvertretung der jungen Ärzte öffentlich für eine ungehinderte Zulassung zur Kassenarztpraxis eintreten musste.
Der Hartmannbund sah insbesondere durch das bei Streitfällen gesetzlich vorgeschriebene schiedsamtliche Schlichtungsverfahren die Freiheit der Ärzte bedroht, notfalls durch Herbeiführung eines vertragslosen Zustandes, also durch einen Streik, Druck auf die Krankenkassen ausüben zu können. Sievers betonte dagegen die Vorteile des Gesetzentwurfs für die Kassenärzte. Die ambulante ärztliche Behandlung würde in vollem Umfang den niedergelassenen Ärzten übertragen, Krankenhausambulanzen und Eigeneinrichtungen der Krankenkassen als Konkurrenz ausgeschaltet. Dass man im Gegenzug auf das Streikrecht verzichtete und Schiedsinstanzen in Anspruch nehmen musste, erschien ihm als durchaus angemessene Gegenleistung für die Vielzahl an Zugeständnissen.
Das hieß, in der Folge würde das von den Kassenärzten erbrachte Leistungsvolumen mittelbar die Höhe des Gesamthonorars bestimmen. Selbst bei Beibehaltung der pauschalierten Vergütung würde somit die Ausweitung der kassenärztlichen Tätigkeit zulasten der Krankenkassen gehen.
Es lag also künftig primär im Ermessen der niedergelassenen Kassenärzte selbst, über die Beteiligung der leitenden Krankenhausärzte an der ambulanten Versorgung zu entscheiden.
Das Gesetz über das Kassenarztrecht stellt ein Paradebeispiel für das politische Durchsetzungsvermögen der ärztlichen Standesorganisationen in der Aufbauphase der Bundesrepublik Deutschland dar. Gegen vielfachen Widerstand gelang es, ein Gesetz zu bewirken, das den Kassenärzten das Monopol bei der ambulanten medizinischen Versorgung garantierte und aufgrund seiner Honorarbestimmungen die Voraussetzungen für den in der Folge zu verzeichnenden überdurchschnittlichen Einkommenszuwachs der niedergelassenen Ärzte schuf. Mit der strikten Trennung von ambulantem und stationärem Bereich gab das Kassenarztrecht Strukturen vor, die sich über Jahrzehnte hinweg weitgehend unverändert erhalten haben. Das Kassenarztrecht von 1955 war nicht das Resultat einer öffentlich geführten Auseinandersetzung, sondern das Ergebnis einer geschickten Verhandlungs- und Lobby-Strategie der ärztlichen Standesvertreter mit deutlichen Vorteilen gegenüber den Krankenkassen.