Abschied vom Konzept des Sozialen, das vier Jahrzehnte erfolgreich praktiziert wurde

"Wir brauchen eine neue Kultur des Umgangs des Bürgers mit sich selbst: eine neue Wertschätzung der Selbstsorge"

2005 +++ Johannes Degen +++ Quelle: Ärzte Zeitung 15.11.2005

Über mehrere Jahrzehnte hin ist es unbestritten gewesen, daß das gesamte System der Sozialen Sicherung, kurzum: der uns so vertraute Sozialstaat allen Bürgern unseres Landes ein "Leben in Würde und Freiheit" ermöglicht. Damit, daß der Sozialstaat in eine Krise geraten ist, stehen nun aber eben auch diese Würde und diese Freiheit auf dem Spiel, sind zumindest hineingerissen in den Strudel der Verunsicherung. (...) Der Abschied von einem Konzept des Sozialen, das immerhin vier Jahrzehnte erfolgreich praktiziert wurde, fällt außerordentlich schwer. (...)

Chancengleichheit für alle ist eine Utopie

Zugleich müssen wir uns von einem Anspruch lösen, der den Sozialstaat bisheriger Prägung schleichend in eine verheerende Schieflage gebracht hat: daß nicht voll ausgeschöpfte Möglichkeiten des Heilens und der Ent-Sorgung - im Sinne eines so genannten sorgenfreien Lebens - sogleich immer als ein Defizit, als Vorenthaltung von Lebenschancen angesehen werden, die abzubauen unbedingt das Kollektiv, der Staat verpflichtet sei. Maximale medizinische Versorgung auf dem neuesten Stand der Forschung, und dies für alle - eine Unmöglichkeit! Chancengleichheit auf dem Weg vom Straßenfeger zum nivellierten Mittelstandsbürger, und dies für alle - eine Utopie! Der Staat kann nicht Garant für eine gleichmäßige Verteilung aller sozialen Leistungen über das gesamte Volk sein, seine Aufgabe muß darin bestehen, tatsächliche Härten, die einzelne Bürger oder Gruppen in der Gesellschaft hinsichtlich ihrer sozialen und gesundheitlichen Lage ertragen müssen, zu mildern. (...)

Bürger unter der Vormundschaft des Sozialstaats

Der systematische Versuch, von oben, durch staatliche Gesetze und Verwaltungspraxis Ungleichheiten zu überwinden, führt stets zu einer Einschränkung individueller Freiheit des Wählens. Daß die Ausübung einer solchen individuellen Freiheit zugleich frösteln macht, weil sie nur um den Preis größerer Ungleichheit zwischen den Menschen zu haben ist, ist eine beschwerliche, wenngleich unvermeidliche Einsicht.

Der Blick auf sozialstaatliches Handeln und die Wirkungen, die dieses Handeln bei den Bürgern hervorruft, macht dessen vormundschaftlichen Charakter nur allzu deutlich: die Selbständigkeit der Menschen, ihre sozialen Angelegenheiten zunächst einmal selber in die Hand zu nehmen, verkümmert, der Typ des betreuten Menschen wird vorherrschend, nicht der aktive Bürger, sondern der entlastete Versorgungsempfänger ist das Leitbild.

Der Staat nimmt den Charakter eines sozialen Übervaters an, der alle seine Bürger gleichmäßig und mit gleichen Leistungen bedient, und dies mit einem stetig wachsenden bürokratischen Aufwand. Der Staat soll der entscheidende Garant für den sozialen Zusammenhalt der Bürger sein. Die Gesellschaft dagegen ist in ihrer Verantwortung für ein soziales mitmenschliches Klima wenig gefragt und in Deutschland besonders schlecht organisiert.

Wir brauchen deshalb eine Entwicklung, die wegführt vom klassischen Sozialstaat hin zu einer Sozialgesellschaft, in der die Freiheit des Einzelnen und eine die Menschen verbindende Solidarität eine neue Verbindung eingehen. Bevor von oben, zentral durch den Staat Leistungen und Dienste organisiert werden, bevor Ansprüche einklagbar werden, muß neu und nachdrücklich gesagt werden: "Du Mensch in deiner Bedürftigkeit, du hast Verantwortung für dich, bist mächtig genug, selbst noch bei Krankheit und im Alter, in wirtschaftlicher Not und deprimierender Ratlosigkeit zuerst deine eigenen Kräfte einzusetzen, bevor du nach dem Staat, nach der Gemeinschaft, nach der Solidarität der anderen und ihrer von außen kommenden Hilfe rufst." (...)

Die kritische Sicht auf den Sozialstaat führt, wenn man Auswege aus seiner Krise sucht, zu der meines Erachtens nach zentralen Frage, welche Bedeutung der Selbstsorge der Bürger in Zukunft zukommen soll. Denn dies scheint sich als zunächst wenig praktische, wenngleich unausweichliche Einsicht immer mehr nahe zu legen: eine eindimensionale Politik des Sparens und der Veränderung gesetzlicher Grundlagen, eine nachhaltige Bekämpfung mißbräuchlicher Inanspruchnahme von Leistungen der Gemeinschaft - all dies ist von einem ökonomischen Röhrenblick bestimmt, der nicht zu den notwendigen Veränderungen führt und ethisch perspektivlos ist.

Wenn hier von Selbstsorge die Rede ist, ist mehr und etwas anderes gemeint als etwas mehr Eigenverantwortung. Es geht vielmehr um eine andere Kultur des Umgangs des Bürgers mit sich selbst im Zusammenhang seiner Verantwortung für das Gemeinwesen. Von dem hier anzudenkenden Haltungswechsel aus ist noch einmal ganz anders darüber zu diskutieren und zu entscheiden, wie Fremd- und Selbstsorge, Solidarität und individuelle Verantwortung einander künftig ergänzen können. (...)

Die Konsequenzen des Konzepts Selbstsorge für die notwendige Neubestimmung des Sozialen, für den Umbau des Sozialstaates sind unübersehbar:

Erstens: Ein wirklicher Haltungswechsel ist notwendig, weg von einer vorherrschenden Versorgungsmentalität, hin zu individueller Vorsorgeverantwortung. Ein bißchen mehr Eigenverantwortung reicht nicht aus. Die mangelnde Wertschätzung der Selbstsorge hat den Charakter einer selbst verschuldeten Unmündigkeit, aus der herauszugehen dringend notwendig ist, damit die staatlichen Leistungen wieder einen eindeutig subsidiären Charakter bekommen.

Die Würde des Menschen findet dort ein größeres Maß an Respekt, wo ihm die Fähigkeit zur Selbstsorge zugetraut wird. Für eine Grundorientierung in sozialpolitischer Hinsicht heißt dies, diese Fähigkeit zum Ausgangspunkt für die Organisation und Finanzierung individuell notwendiger Assistenzleistungen zu nehmen.

Es geht um Haftung für das eigene Tun und Leben

Zweitens: Individuelles Fehlverhalten, selbstschädigende Lebensweise und mutwillige Grenzüberschreitungen können in ihren zerstörerischen Folgen nicht umfassend kollektiv verantwortet und getragen werden, sie müssen weitgehend, zumindest aber in größerem Umfang individuell ertragen und durch Eigenleistung gemildert werden.
Die Haftung für das eigene Tun und Leben ist kaum an andere zu delegieren, und das bedeutet: es gibt Versagen und Schuld - gleichsam die Rückseite der Selbstsorge -, und sie können nicht durch soziale Leistungen des Kollektivs aufgehoben werden, sie können bestenfalls erträglicher gemacht werden.

Drittens: Die Fähigkeit zur Selbstsorge ist höchst unterschiedlich entwickelt. Ein Ausgleich dieser Unterschiede sollte nur dann und dort eine Aufgabe des Kollektivs sein, wo jemand in der Nutzung seiner ihm normalerweise eigenen Kräfte nachhaltig gehindert ist.
Anders gesagt: Es ist eine Mißachtung der Eigenständigkeit und Einmaligkeit eines Menschen, der zum Beispiel mit einer schweren geistigen Behinderung lebt, ihn nicht auf die wenigen, aber immerhin vorhandenen Möglichkeiten einer selbstbestimmten Sorge für sich anzusprechen und - wo selbst diese Ansprache nicht mehr möglich zu sein scheint - ihm so zu begegnen, als hätte er diese Möglichkeiten.
Selbstsorge ist nicht ökonomisch, sondern werteorientiert.

Viertens: Selbstsorge umfaßt deshalb nicht nur das Handeln zugunsten seiner selbst, sondern sie ist zugleich auch die Einsicht in die Konditionen meines Lebens, das endlich, verletzlich und immer auch schon verletzt ist. Die Entdeckung und Betonung der Selbstsorge für die Neubestimmung des Sozialen ist nicht die Lösung oder Minderung der Finanzierungsprobleme des alten Sozialstaates. Aber wo die Selbstsorge in ihren verschiedenen Bezüge sozialkulturell wieder in den Mittelpunkt rückt, da kann die Frage, was wir uns leisten wollen und können, wieder neu beantwortet werden, das heißt: mit einer Wertorientierung verbunden und nicht ökonomisch verengt. (...)