Raffelhüschen: "Politik rechnet den drohenden Kollaps der Pflegekassen schön"

Neue Studie zu aktuellen Reformmodellen für die Pflegeversicherung

2005 +++ Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) +++ Pressemitteilung 8/05 - 7. April 2005, www.insm.de

Auszüge:

"Weder Regierungs- noch Oppositionslager haben derzeit taugliche Reformentwürfe, um den drohenden Finanzkollaps in der Pflegeversicherung zu verhindern", erklärte Professor Bernd Raffelhüschen am Donnerstag in Berlin. Im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) hat der Direktor des Forschungszentrums Generationenverträge an der Freiburger Albert-Ludwigs-Uni-versität die aktuellen Reformentwürfe der SPD (Karl Lauterbach und Andrea Nahles) sowie der bayerischen Sozialministerin Christa Stewens (CSU) auf ihre Nachhaltigkeit innerhalb der nächsten fünf Jahrzehnte untersucht.

Sein Fazit: "Die Politik in beiden Lagern rechnet den absehbaren Zusammenbruch der Pflegefinanzen schön. Dabei müsste sie endlich rückhaltlos die Wahrheit auf den Tisch legen. Stattdessen versprechen die Reformmodelle mehr als sie halten können." Die vorliegenden Reformentwürfe verschärfen nach Auffassung von Raffelhüschen sogar die Ungerechtigkeit im Verhältnis zwischen den Generationen.

Lauterbach und Nahles auf SPD-Seite wollen die Pflegeversicherung nach dem Modell der Bürgerversicherung umbauen, um so die Beitragszahlerbasis zu vergrößern. Die CSU-Politikerin Stewens will das bisherige Leistungsniveau einfrieren und preisbedingte Kostensteigerungen über eine zusätzliche obligatorische kapitalgedeckte Vorsorge auffangen.

Der von Stewens angepeilte monatliche private Vorsorgebeitrag von 4 Euro pro Person, der sich bis 2030 auf 15,28 Euro erhöhen soll, ist laut Raffelhüschen viel zu niedrig angesetzt. Um das Defizit der Pflegeversicherung abzudecken, müsse man beim Stewens-Modell mit einem privaten Vorsorgebeitrag von 8,50 Euro starten, der bis zum Jahr 2030 auf fast 50 Euro steigen müsse.

Beide Reformmodelle sehen vor, künftig auch Pflegekosten von Demenzkranken durch die Gesetzliche Pflegeversicherung (GPV) abzudecken. Nach den Berechnungen von Raffelhüschen würde allein dadurch der zusätzliche Finanzbedarf der Pflegeversicherung von hochgerechneten 700 Milliarden Euro auf mindestens 950 Milliarden Euro anschwellen.

Deutlicher noch fiele nach seinen Berechnungen für die INSM die Nachhaltigkeitslücke beim Bürgerversicherungsmodell von Lauterbach und Nahles aus. Hier ermittelte Raffelhüschen eine Finanzlücke von über einer Billion Euro. Zwar sorge die Verbreiterung der Beitragsbasis kurzfristig für Mehreinnahmen. Doch der neu hinzugekommene Versichertenkreis altere eben auch: "Durch den größeren Kreis der dann Anspruchsberechtigten würde sich das Finanzproblem der Gesetzlichen Pflegeversicherung noch verschärfen", warnte Raffelhüschen.

Für den Fall, dass das Lauterbach-Nahles-Modell in die Tat umgesetzt würde, rechnet er damit, dass sich der Beitragssatz von derzeit 1,7 Prozent auf 5,1 Prozent verdreifachen könnte. "Das ist eine wirtschaftlich und auch moralisch untragbare Belastung der aktiven Generation in Deutschland", meinte der Freiburger Professor.

Bei der Pressekonferenz der INSM machte er deutlich, dass beide Reformmodelle nicht zukunftstauglich sind und forderte stattdessen die komplette Abschaffung der Gesetzlichen Pflegeversicherung: Pflegerisiken im Alter müssten künftig durch eine obligatorische kapitalgedeckte Vorsorge abgesichert werden.

Den Übergang in ein solches privates System skizzierte der Wissenschaftler wie folgt: Nur die heute über 60-Jährigen sollten in der GPV bleiben. Ihr Beitrag zur Pflegeversicherung dürfe sich nicht länger prozentual am Einkommen orientieren, sondern müsse durch eine monatliche Pauschale von 50 Euro ersetzt werden.

Die heute unter 60-Jährigen müssten nach dem Raffelhüschen-Plan ihr Pflegerisiko durch eine Privatpolice absichern, die monatlich 45 bis 55 Euro Beitrag kostet. Zusätzlich müsste die Generation „Minus 60“ noch einen Solidaritätszuschlag von 0,6 Prozent des Bruttoeinkommens entrichten, damit die GPV ihren laufenden Verpflichtungen für die im alten System verbleibende Generation 60 Plus erfüllen könne. Nach Raffelhüschens Auffassung soll die Gesetzliche Pflegeversicherung nach dem Jahr 2046 komplett abgeschafft sein.

Die Politik forderte der Demographie-Experte auf, die Lage nicht länger zu beschönigen, sondern schnell und entschlossen zu handeln. "Jedes Jahr, das wir länger warten, verschärft die demographisch bedingte Schieflage der Pflegeversicherungsfinanzen. Jede Verspätung beim notwendigen Umstieg in ein privates Vorsorgesystem wird höhere private Vorsorgebeiträge erforderlich machen", so Raffelhüschen.