Gesundheit, Gleichheit, Gerechtigkeit

Das Gesundheitswesen: In einem weiten Meer des Kapitalismus eine quasikommunistische Insel der Glückseligkeit

2005 +++ H.-O. Wiesemann +++ Quelle: Versicherungsmedizin 57 (2005) Heft 2, 61-63

Gesundheit ist das höchste Gut - eng verknüpft mit diesem Gemeinplatz ist die Forderung, dass jedermann in gleichem Maße Zugang zur Gesundheitsversorgung haben müsse. In allen anderen Lebensbereichen akzeptieren wir, dass es, je nach Einkommen und Vermögen, große und größte Unterschiede gibt.

Es ist gesellschaftlicher Konsens, dass es Menschen gibt, die Maßanzüge tragen, und andere, die nur die erschwinglicheren von der Stange einkaufen. Oder dass bestimmte Personen Ferrari fahren, während sich andere mit der Straßenbahn fortbewegen. Allerhöchste Ungleichheit ist allgemein akzeptiert, nur nicht im Gesundheitswesen. Hier wird allerhöchste Gleichheit gefordert und weitgehend durchgesetzt, selbst wenn die Konsequenzen einer solchen Forderung nicht nur teuer, sondern kontraproduktiv sind.

Im Gesundheitswesen, bei der medizinischen Versorgung, sollen Kaufkraftunterschiede, die die Nachfrage nach medizinischen Leistungen bestimmen könnten, keine Rolle spielen. Das Gesundheitswesen: In einem weiten Meer des Kapitalismus eine quasikommunistische Insel der Glückseligkeit, auf der getreu der Devise "Jedem nach seinen medizinischen Bedürfnissen" gehandelt wird.

Aus welchem Grund sind unsere Gerechtigkeitsvorstellungen derart inkonsistent und dichotom? Ist es die Krankheit als Vorstufe des Todes, des großen Gleichmachers? Vermutlich fußt die enge Verknüpfung von Gleichheit und Gesundheit weniger auf ethischen Prämissen als in der Geschichte medizinischer Praxis.

Bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts war das Verhältnis von Gerechtigkeit und Gesundheit ohne soziale Sprengkraft. Der Arzt konnte faktisch wenig gegen Krankheiten ausrichten, konnte bestenfalls Mut zusprechen oder eine Linderung des Leidens anstreben. Der Patient durfte schon froh sein, wenn ihm die Behandlung nicht mehr schadete als nützte, durch fragwürdige Prozeduren wie Aderlässe ist mancher Patient gestorben.

Spitäler waren die Orte, in denen die Armen starben - die Wohlhabenden verstarben zu Hause. Die Heilungschancen der Erkrankten waren kaum andere zwischen Arm und Reich. Noch in Thomas Manns „Der Zauberberg" war die Unterkunft Sanatorium Berghof für die gehobene Gesellschaft komfortabel, doch war das medizinische Arsenal von Hofrat Behrens ähnlich schlecht bestückt, wie das seiner Kollegen in den Lungenheilstätten der Arbeiter.

Die darauf folgende Epoche, die bis heute andauert, sieht erstmals echte Fortschritte in der Medizin - das Ergebnis waren Impfungen und wirksame Medikamente wie Sulfonamide und Antibiotika. Diese Mittel stehen, nicht zuletzt auf Grund ihrer industriellen Produktionsweise, kostengünstig zur Verfügung und haben beträchtlich die Lebenserwartung und den Gesundheitszustand in den industrialisierten Ländern angehoben. Eine soziale Diskriminierung zwischen Reichen und Arm nach Heilungschancen ist nicht zu erkennen.

Ivo Andric bringt dies auf die Formel: „Die Krankheit ist für die Armen Schicksal und für die Reichen Strafe. " Die Umstände mögen anders sein - hier das enge Zimmer mit zehn Betten in einem öffentlichen Spital, dort ein komfortables Einbettzimmer in einer Privatklinik - die verabreichten Mittel, die vorgenommenen Prozeduren sind ähnlich, wenn nicht identisch oder wandern nach einer Einführungszeit von den Reichen zu den Armen. Soziale Differenzierung macht sich auch im Gesundheitswesen bemerkbar, hält sich aber mit Randerscheinungen auf und berührt kaum den Kernprozess der Heilung. Niemals geht es dabei um völlig unterschiedliche Heilungs- und Überlebenschancen.

Es ist kein Widerspruch, dass die Lebenserwartung besser gestellter Privatpatienten dennoch einige Jahre über der von gesetzlich Versicherten liegt. Die Gründe sind nicht in einer besseren medizinischen Versorgung zu suchen, sondern in Faktoren wie Bildung, sozialem Status und Lebensstil begründet. Mediziner sprechen in Hinsicht auf Lebensstil (Ernährung, Sport, Nichtrauchen, maßvoller Alkoholkonsum) von einer beeinflussbaren "Plastizität des Alterungsprozesses", die sich durch gesundheitlich vernünftiges Verhalten erzielen lasse: Das Eintreten von chronischen Krankheiten könne man nicht verhindern, jedoch um Jahre verzögern. Dieses vernünftige Verhalten ist wiederum eng mit sozialer Herkunft und Bildung korreliert.

Welche Tendenzen zeichnen die moderne Medizin aus, nachdem sie, wie es scheint, die Phase ihrer kostengünstigen Errungenschaften abgeschlossen hat? Eine Entwicklung ist zu erkennen: Die Kosten diagnostischer und therapeutischer Verfahren steigen immer stärker an.

Dazu ein paar Zahlen: Die Versorgung eines AIDS-Patienten mit antiretroviralen Medikamenten kostet 15 000 EUR im im Jahr, die eines Nierenkranken mit Hämodialyse kostet jährlich 40 000 EUR, eine Lebertransplantation 100 000 EUR. Diese Kosten sind für die Gesellschaft deshalb tragbar, weil es sich um relativ wenige Fälle handelt, bei AIDS sind es 21 000 Erkrankte, bei Dialyse 50 000, bei Lebertransplantationen 600 Operationen im Jahr.

Sicher ist es spekulativ und unsicher, doch sollen die Kosten von zukünftigen Gentherapien für Krebspatienten oder von aus Stammzellen gezüchteten Ersatzorganen exorbitante Höhen erreichen. Die Schere von medizinisch Möglichem und ökonomisch Bezahlbarem dürfte sich derart weiten, dass man rechtzeitig vorher darüber nachdenken sollte, wie mit solch zweischneidigen Errungenschaften umzugehen ist. Grundsätzlich eröffnen sich zwei Wege, auf diese Fragen zu antworten.

Der eine Weg ist die Fortführung des Status quo: Jeder, der das medizinisch Notwendige braucht, kann es beanspruchen. Wir finanzieren weiterhin sämtliche medizinische Leistungen und lassen Arme wie Reiche gleichermaßen daran teilhaben. In jedem Fall werden die Kosten dieser Entscheidung vom Mittelstand zu tragen sein und nicht allein von den Reichen. Das Nettoeinkommen vieler Bürger würde durch extrem hohe Krankenversicherungsbeiträge empfindlich geschmälert. Dies wäre zunehmend mit Verzicht auf lieb gewonnene Dinge und Annehmlichkeiten zu bezahlen.

Derzeit gibt Deutschland mehr als ein Zehntel des Bruttoinlandsprodukts für Gesundheit aus. Wenn man sagt, dass eine Politik des ungehinderten Zugangs zu den zukünftigen Möglichkeiten moderner Medizin eine Verdoppelung dieses Anteils zur Folge haben könnte, so ist dies für die wenigsten von uns beeindruckend. Die Abstraktion einer Verdoppelung unserer Gesundheitsausgaben bedeutet, dass noch weit mehr Menschen als heute schon im Reparaturbetrieb Gesundheitswesen arbeiten werden. Es liegt auf der Hand, dass eine florierende Gesundheitsindustrie die anderen Lebens- und Wirtschaftsbereiche marginalisieren wird.

Die Alternative ist, dass nur noch Menschen, die für die neuen therapeutischen Möglichkeiten zahlen können und zahlen wollen, diese in Anspruch nehmen. Es ist anzunehmen, dass die Zahlungsfähigkeit für extrem kostspielige Therapien durch die finanziellen Möglichkeiten des Einzelnen begrenzt ist. Damit werden diese Therapien der Oberschicht und den oberen Mittelschichten vorbehalten bleiben.

In diesem Fall bleibt das Gesundheitswesen finanzierbar, es wird nach Zahlungsfähigkeit sozial differenziert - medizinische Heilungschancen gehen das erste Mal, finanziell bedingt, auseinander. Die Ungleichheit, die in allen anderen Lebensbereichen längst besteht, wäre dann im Gesundheitswesen angekommen, das egalitäre Reservat namens gesetzliche Krankenversicherung würde aufgegeben.

Für unsere Sozialpolitiker wäre dies ein Horror, wenn Ungleichheit sich nicht mehr nur in besseren Hotellerieleistungen und einer kürzeren Wartezeit im Sprechzimmer ausdrückte, sondern in Kernfragen der Gesundheit, von Leben und Tod. Das Schlagwort von der Zwei-Klassen-Medizin, ein Residuum des Klassenkampfs, bekäme erstmals realen Gehalt.

Ist es zynisch zu fragen, warum sich die sonst höheren Lebenschancen in Zukunft nicht in höheren Überlebenschancen ausdrücken sollen? Wenn unsere Gesellschaft sonst mit Ungleichheit zu Recht kommt, dann müsste sie auch diese Form der Ungleichheit akzeptieren können. In Großbritannien wird die Diskriminierung nach Zahlungsfähigkeit für bestimmte Therapieformen und Altersklassen schon heute praktiziert: Ab Alter 65 übernimmt der National Health Service Therapien wie Dialyse nicht mehr. Wer es sich leisten kann, kauft sie privat ein, wer es sich nicht leisten kann oder keine Vorsorge betrieben hat, wird früher sterben.

Die Probleme, die uns die demographische Alterung stellt, sind bereits erkannt und Gegenstand öffentlicher Diskussion. Die sozialen und ökonomischen Probleme, die uns der medizinisch-technische Fortschritt noch bereiten könnte, sind bisher noch nicht ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gedrungen. Wenn es keine klare Entscheidung der Politik für den einen oder anderen Weg gibt, werden wir vermutlich in die völlige Medikalisierung der Gesellschaft hineingeraten.

Sind uns unsere inkonsistenten Gerechtigkeitsgefühle soviel wert? Oder handelt es sich um eine humanitär gut begründete Ausgabe für einen Wirtschaftszweig, der nicht im Ruf steht, in den letzten Jahrzehnten große Produktivitätsfortschritte erzielt zu haben?

Besserverdienende bezahlen innerhalb des Systems der gesetzlichen Krankenversicherung erheblich mehr für Gesundheit als Geringverdiener. Reichere finanzieren die Krankenversicherung Ärmerer. Ob diese durch Gerechtigkeitserwägungen motivierte Subvention die gewünschten gesundheitlichen Folgen zeitigt, wird zuwenig diskutiert.

Anstatt den Preis für Gesundheit zu subventionieren, wäre es ökonomisch gesehen sinnvoller, den subventionierten Betrag den Bedürftigen direkt auszuzahlen, zur freien Verfügung für Gesundheit, Bildung und Wohnung. Ökonomen haben schon oft darauf hingewiesen, dass man, um die Wohlfahrt der Ärmeren zu steigern, an einer Stelle, dem staatlichen Steuer- und Transfersystem, umverteilen sollte. Und nicht an unzähligen Stellen, bei der Krankenversicherung, beim Wohngeld, im Kindergarten, im öffentlichen Personennahverkehr und bei den Rundfunkgebühren.

Die Vermengung von allokativen und distributiven Fragen feiert im Gesundheitswesen ihre größten Triumphe und endet in einem Problemknäuel, an dessen Entwirrung noch mancher Gesundheitspolitiker verzweifeln wird.