Rettet den Facharbeiter!

Wenn die deutschen Bildungspolitiker nicht aufpassen, wird die Berufsausbildung in Europa nach britischem Vorbild umgebaut - auf niedrigstem Niveau

2005 +++ Felix Rauner +++ Quelle: Die Zeit Nr. 49, 1. Dezember 2005

Zurzeit spielt Großbritannien in Europa meist die Rolle des Klassenbesten, mit einem beeindruckendes Wirtschaftswachstum und einer niedrigen Arbeitslosenquote. Doch gleichzeitig und fast unbemerkt kämpft das Land mit einer beachtlichen Innovationsschwäche. Bestes Beispiel: Im Ursprungsland der industriellen Revolution gibt es bis auf Rover keine englischen Autos mehr. Das hat seinen Grund, denn Großbritannien verfügt über eines der schwächsten Ausbildungssysteme in Europa. Leider soll es nun als Vorbild für die ganze EU dienen.

Die ehemals im Vereinigten Königreich hoch entwickelte Ausbildung von Lehrlingen, Technikern und Meistern ist zu einer Anlerntradition geworden. Seit Mitte der achtziger Jahre gibt es den groß angelegten Versuch, ein umfassendes Zertifizierungssystem einzuführen - ein radikaler Bruch mit einer geregelten, nach Berufen geordneten Ausbildung. An deren Stelle tritt eine für Betriebe und Jugendliche unüberschaubar große Zahl definierter Fertigkeiten (National Vocational Qualifications, NVQ). Nach dem Ende der Schulpflicht mit 16 Jahren entscheidet jeder Einzelne, wo und wie er sich welche Fertigkeiten aneignet und von einer der zahlreichen Zertifizierungsstellen bescheinigen lässt, und dann heißt es Scheine sammeln. Das Ziel, auf diese Weise im Vereinigten Königreich höchste Flexibilität bei der Qualifizierung von Fachkräften sowie im Arbeitsmarkt herzustellen, wurde gründlich verfehlt.

Diese Entwicklung in Großbritannien müsste weder Schüler noch Firmen in Deutschland sonderlich interessieren, wenn es nicht seit 2002 eine Vereinbarung der europäischen Bildungsminister gäbe, genau dieses System zum Vorbild für die Etablierung eines europäischen Berufsbildungsraumes zu machen. Damit könnten, so das überzeugend klingende Argument, Transparenz und Vergleichbarkeit hergestellt werden. Die Logik ist einfach. Je kleiner die Häppchen sind, in die man Berufe und berufliche Fähigkeiten unterteilt, umso besser lassen sich Qualifikationen international miteinander vergleichen.

»Modularisierung« ist das englische Rezept für die Realisierung eines europäischen Qualifikationsrahmens. Das klingt verlockend, wäre aber für die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft fatal. Vor allem drei Gründe sprechen dafür, den Weg in eine Atomisierung beruflicher Qualifizierung nicht mitzugehen.

Eine gute Ausbildung garantiert Engagement

Erstens: Die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft und ihrer Exportindustrie basiert auf einer Berufsbildungstradition, in der praktische Berufsbildung und theoretische Vertiefung miteinander verwoben sind. Wenn es gelingt, diese Tradition nicht nur zu erhalten, sondern sie zu modernisieren und den Übergang von der Berufsbildung zur Hochschule zu verbessern, dann würde dies zum Erhalt der Innovationskraft ganz entscheidend beitragen. Das Geheimnis so begehrter Produkte wie eines Porsche Carrera oder einer Heidelberger-Druckmaschine liegt in einer Tradition, in der das Verstehen zwischen den »Gelernten« und den »Studierten« eine zentrale Rolle spielt, das Verstehen zwischen Facharbeitern und Meistern auf der einen und Ingenieuren auf der anderen Seite.

Zweitens: Eine dreijährige duale Berufsausbildung stiftet berufliche Identität und damit die Grundlage für berufliches Engagement und Qualitätsbewusstsein. Flache Führungs- und Entscheidungshierarchien werden dadurch möglich. Der achtstufige (!) europäische Qualifikationsrahmen, der von 2006 an das Maß aller Dinge in der beruflichen Bildung sein soll, steht dazu in einem krassen Gegensatz. Moderne, wettbewerbsfähige Unternehmen brauchen Enthierarchisierung statt Hierarchisierung, Qualifizierung statt Dequalifizierung.

Drittens: Die Auflösung etablierter Berufsstrukturen und der Ausbildung von Facharbeitern, Fachangestellten und Meistern schwächt die Fähigkeit einer Gesellschaft, die soziale Integration der Heranwachsenden zu organisieren. Hohe Jugendarbeitslosigkeit und ein Anstieg der Jugendkriminalität wären die Folgen.

Seit Juli 2005 liegen die Pläne zur Umsetzung des Europäischen Qualifikationsrahmen (EQR) zur Stellungnahme auf den Tischen von Bundesregierung, Gewerkschaften und Wirtschaftsverbänden. Ende Dezember wird die Zeit für Stellungnahmen ablaufen. Derzeit scheint es, als würde die deutsche Bildungspolitik ein weiteres Mal an der falschen Stelle der EU-Vereinheitlichungsmanie folgen und das Risiko in Kauf nehmen, einen der Glanzpunkte deutscher Unternehmenskultur eine schlechteren europäischen Lösung zu opfern.

Was ist zu tun? Zunächst einmal sollte die Bundesregierung den Europäischen Qualifikationsrahmen als nicht kompatibel mit dem deutschen Berufsbildungssystem zurückweisen und einen Alternativvorschlag vorlegen. Natürlich ist es sinnvoll, einen europäischen Berufsbildungsraum zu realisieren, hin zu einem europäischen Arbeitsmarkt. Doch die Voraussetzung für Mobilität, Transparenz und die Erhöhung der Freizügigkeit der Beschäftigten ist, dass die Zahl der Berufe, die europaweit etabliert sind, Schritt für Schritt ausgeweitet wird.

Die Bundesregierung sollte ihre Position zudem mit den Regierungen benachbarte Länder abstimmen, die über eine vergleichbare Berufsbildungstradition verfügen, dies sind vor allem Österreich, die Schweiz, Luxemburg und Dänemark. Sinnvoll wäre, ein Forschungsprogramm für internationale Vergleichsstudien über Stärken und Schwächen der miteinander konkurrierenden Berufsbildungstraditionen zu etablieren. Diese Untersuchungen müssen auch Länder wie die USA, Japan oder China einbeziehen. Und schließlich muss die Europäische Kommission damit aufhören, sich allzu sehr auf britische Berater aus den staatlichen und halbstaatlichen Berufsbildungsverwaltungen und -forschungseinrichtungen zu stützen. Gelingt die Wende, dann wird es auch in Zukunft mehr als nur eine deutsche Automarke geben.

Felix Rauner ist Professor am Institut für Technik und Bildung der Universität Bremen