Vom Fehlen ganzheitlicher Betrachtung

Die Entwicklung in Europa zu einem Waren- und Dienstleistungsaustausch ist unaufhaltsam

2005 +++ Eike Hovermann +++ Quelle: gpk GESELLSCHAFTSPOLITISCHE KOMMENTARE Nr. 5/05 - Mai 2005 - Seite 3-17

Auszüge:

Der DGB-Vorsitzende Michael Sommer zitiert (SZ-Interview vom 21. Januar 2005): "Wir müssen aber das Bewusstsein dafür stärken, dass wir von einer nationalen zu einer europäischen Sicht kommen müssen (...) wir werden die Tarifautonomie und den Flächentarifvertrag auf Dauer genauso wenig als nationale Besonderheit halten können wie die Mitbestimmung, wenn nicht beides in einen europäischen Rahmen kommt."

Ein erfolgreicher Wandel zu einem europäischen Sozialstaat im Sinne von Michael Sommer wird daher nicht durch Abschottung, sondern - in Erinnerung an die Worte Willy Brandts - nur durch Annäherung gelingen.

Eine Rückschau auf die Europäische Rechtsprechung und die Europäischen Richtlinien lehrt uns: Gestaltungsmacht und vor allem auch die Haltbarkeit von nationalen gesetzgeberischen Vorgaben nimmt mit dem größer, kräftiger und selbstbewusster agierenden Europa ab. Die Aufgabe besteht also in der aktiven Gestaltung eines Europäischen Gesundheitswesens, sonst drohen Planungsunsicherheit und Investitionsstau in großem Umfang mit den entsprechend negativen Folgen für den Arbeitsmarkt.

Fast hundert Jahre später, nämlich 1961 liest sich das " bei Asa Briggs' so: "Ein Wohlfahrtsstaat ist ein Staat, der bewusste Anstrengungen unternimmt, um die Mechanismen des Marktes insbesondere in drei Richtungen zu verändern - Erstens: Individuen und Familien wird ein Minimaleinkommen garantiert unabhängig vom Marktwert ihrer Arbeit oder ihres Besitzes. Zweitens: Unsicherheiten werden eingeschränkt, indem die Individuen und Familien befähigt werden, Risiken wie Krankheit, Alter und Arbeitslosigkeit zu bewältigen, die andernfalls zu Krisen führen würden. Drittens: wird allen Bürgern unabhängig von ihrem Status und ihrer Klassenzugehörigkeit der bestmöglichste Standard eines festgelegten Angebotes sozialer Dienstleistungen gewährt."

Wir wissen inzwischen, welche Schwierigkeiten etwa 3 das Modell des skandinavischen Wohlfahrtsstaates mit sich gebracht hat in Bezug auf Verschuldung, soziale Desintegration, fehlendem Leistungswillen, Absinken der Wirtschaftskraft und anderes mehr. Wir unterscheiden deshalb auch zwischen dem Sozialstaat und einem Wohlfahrtsstaat, mit der sehr viel stärker ausformulierten Idee vom allumfassend sorgenden, und dadurch auch bevormundenden Staat.

Anders gesagt: Der permanente Konkretisierungsauftrag fordert den Gesetzgeber immer wieder auf, die aus dem Sozialstaatsgebot entstandenen Absicherungen, Gesetze und Regulierungen darauf hin zu überprüfen, inwieweit sie auch unter dem Aspekt der Finanzierbarkeit (ohne Schulden!!) durchgehalten werden können, was neu justiert werden muss, wo neue eigene Verantwortlichkeiten eingebaut werden, und - vor allem - wie wir im größer werdenden Europa unsere nationalen Regulierungsmechanismen europakompatibel nachjustieren müssen.

Denn eine Erkenntnis - sie wird nur noch nicht freimütig diskutiert - ist mittlerweile unbestritten: die sozialen Sicherungsnetze in Deutschland wie in anderen europäischen Ländern sind nicht mehr im bisherigen Ausmaß zu finanzieren.

Zu dem alsbald notwendig werdenden, ungewohnten, neuen und gesamtgesellschaftlich ehrlichen Diskurs muss die einfachste aller Erkenntnisse gehören, nämlich: Mit endlichen Mitteln können nicht unendliche Leistungserwartungen verknüpft werden, weil das in nichts anderem enden kann als in einer Überschuldung zu Lasten folgender Generationen, denen damit jede politische Gestaltungsfähigkeit und auch eigene soziale Sicherheit genommen wird. Eine vergrößerte Eigenkapitaldeckung wird, wie bei Rente und Pflege, Thema der nächsten Jahre werden müssen.

Kurt Biedenkopf äußert sich dazu lapidar und m. E. richtig: ,,Eine Politik, welche die Zukunftsfähigkeit des Landes und seiner freiheitlichen Ordnung von dauerhaftem Wachstum abhängig macht, kann deshalb keine lebenswerte Zukunft bieten. Ihr fehlt der tiefere Sinn." Und er fährt fort: "Die wirkliche politische Zukunftsaufgabe lautet: Wir müssen die Notwendigkeit des Übergangs vom expansiven Wachstum der Aufbauzeit zum dynamischen Gleichgewicht eines dauerhaften Bestandswachstum erkennen."

Ralf Dahrendorf kommt auf ähnlichen Wegen nach Lösungen suchend zu der Feststellung: "Die Frage ist nicht, Wie sozial ist die Marktwirtschaft?, auch nicht Wie sozial soll sie sein?, sondern: Wie viel Soziales erträgt eine wettbewerbsfähige Marktwirtschaft? und Wer soll dieses Soziale wie bestimmen?" Zu diesen Fragen gelangt er über die Einsicht, dass es auf der Hand liege, "dass Deutschland ein - die Leistungsfähigkeit und -bereitschaft der Steuerzahler überforderndes - System der sozialen Sicherheit hatte und auch nach den eingeleiteten Reformen noch hat. Es überfordert, weil es schlicht aus den vorhandenen Mitteln nicht bezahlbar ist und zudem noch eine Spirale wachsender Kosten enthält."

Mit der Bürgerversicherung wird beispielhaft unter einem wohlklingenden Begriff, der Gerechtigkeit suggerieren will, etwas gefordert, was juristisch, ökonomisch und steuerpolitisch - auch unter dem Aspekt föderaler Hindernisse - erstens nicht durchgesetzt werden kann und zweitens auch inhaltlicher Unfug ist.

Die einfachste und durchscheinendste Grundeinsicht beider Papiere ist die, dass bisher national definierte Ziele national nicht mehr autonom fortentwickelt und geschützt, respektive abgeschottet werden können. Das gilt für jede nationale Regierung über jeden Wahltag hinaus. Etwas flapsig: Sogar für unser starkes und föderal organisiertes Deutschland.

Allgemeine Anmerkungen zu den Auswirkungen von EU-Richtlinien - in Sonderheit Dienstleistungsrichtlinie - und EuGH-Urteilen auf die Gesundheitspolitik

Leitendes Interesse der EU-Politik ist seit 1986 vor dem Hintergrund des globaler werdenden Wettbewerbs die Schaffung eines gemeinsamen EU-Binnenmarktes mit den sog. vier Grundfreiheiten: Freier Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und Personenverkehr.

Im Rahmen dieses deutlich artikulierten Interesses soll es die Dienstleistungsrichtlinie Unternehmen und Freiberuflern erleichtern, Dienstleistungen gemeinschaftsweit anzubieten.

Von besonderer Bedeutung wird sein, wie viele und welche Ausnahmeregelungen bzw. Bereichsausnahmen für den intendierten "einen" Binnenmarkt eingebaut werden sollen. Hier gibt es unterschiedliche Vorstellungen, z. B. seitens der KBV, der Kassen sowie auch durch die politischen Parteien.

Ich persönlich gehe davon aus und nehme zur Kenntnis,

Die Dienstleistungsrichtlinie stellt uns - pars pro toto - vor die Frage: Was können/sollten unsere nationalen Regulierungsinstrumente noch leisten, was können sie schon lange nicht mehr leisten und wo behindern sie einen leistungsstarken EU-Binnenmarkt und damit letztlich die Schaffung neuer Arbeitsplätze?

Derzeit sind die privaten (Kranken-)Häuser - durch duale Finanzierung ungebremst - im Vormarsch. Sie entwickeln zunehmend mit Hilfe des § 140 SGB V und der Errichtungsmöglichkeit von Medizinischen Versorgungszentren (MVZs) spezielle Versorgungsangebote, dazu attraktive Patientenpfade, eine erstklassige, kostengünstige medikamentöse Versorgung auf der Basis von Direktverträgen mit den Herstellern und eine qualitativ hochwertige Nachsorge. Die Kassen werden mit diesen Häusern Versorgungsverträge ohne KVen abschließen. Damit wird m. E. der Sicherstellungsauftrag der KVen ebenso bröckeln wie die Stellung der Kassen als Körperschaft des öffentlichen Rechts.

Die gemeinsame Angst von Kassen und kassenärztlichen Vereinigungen vor Machtverlust

Dass die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) mit ihren Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) und die Ärztekammer gemeinsam eine Ablehnungsfront gegen die Dienstleistungsrichtlinie bilden, war zu erwarten. So führen sie beispielsweise aus, dass der vorliegende Entwurf "weitreichende Veränderungen der Versorgungsstruktur der gesetzlichen Krankenkassenversicherung in Deutschland" haben werde.

Damit - und genau das wird nicht so deutlich artikuliert - würden natürlich auch die KVen von weitreichenden Veränderungen betroffen werden, denn die KVen sind zusammen mit den Kassen wesentliche Säulen des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) - der Selbstverwaltung. So formuliert die KBV dann auch deutlich: "Unter Beachtung der nationalen Gestaltungsautonomie für die Systeme der sozialen Sicherheit ergeben sich hieraus zwangsläufig Grenzen für die Vorschläge in der hier in Rede stehenden Dienstleistungsrichtlinie, deren Einzelregelungen insoweit mit den Grundprinzipien der gesetzlichen Krankenversicherung und ihres Versorgungssystems kollidieren."

Als Beleg für solche Kollisionen führen sie dann das "Sachleistungsprinzip" an, mit dem im GKV-System traditionell Leistungen honoriert würden. Auch hier gilt erneut zu erinnern, dass wir schon seit einiger Zeit auf Grund von EU-Richtlinien und EuGH-Urteilen die nationalen, gewohnten Regulierungsmechanismen um- und nachrüsten und damit EU-kompatibel machen mussten. Auf diesem Weg haben wir bereits das Sachkostenprinzip deutlich "aufgeweicht", ohne dass es dabei allerdings zu einem Zusammenbruch in der Versorgung oder im Verhältnis von Kassen - Leistungserbringern - Patienten gekommen wäre. Das Sachkostenprinzip ist zwar ein nationales, historisch gewachsenes GKV-Prinzip, aber keines, ohne dass die GKV mit ihrer Grundsubstanz nicht existieren könnte. Ein Blick in andere EU-Länder kann hier helfen.

Aufmerksamer als bisher sollten allerdings beide Kombattanten im Zuge der EU-Entwicklungen z. B. das EuGH-Urteil in der Sache Freskot vom 22. Mai 2003 lesen. In diesem Urteil wird nicht allein eine Unternehmensfrage behandelt, sondern auch darauf verwiesen, dass Versicherungen Dienstleistungen sind, für die europaweit die Dienstleistungsfreiheit gelte. Darin wird zum ersten Mal die Frage erörtert, ob ein Pflichtversicherungssystem nicht gegen den freien Waren- und Dienstleistungsverkehr verstoße.

Dr. Doris Pfeiffer, Vorstandsvorsitzende des VdAK, belegt diese Einschätzung wunderbar, wenn sie formuliert: "Eine Harmonisierung des Gesundheitssystems ist weder politisch gewollt noch wäre sie ökonomisch sinnvoll.

Zu deutsch: Es geschieht Zug um Zug das, was ich bereits im August 2000 prognostiziert hatte: Die Erosion nationaler Regelungsmechanismen. Ich hatte damals schon der Politik wie den Kassen und KVen vorgeschlagen, sich anstelle einer reinen Blockadehaltung auf ein prospektives und aktives Mitgestalten europäischer Entwicklungen einzustimmen. Dies ist im Gesundheitsbereich weder bei Kassen noch bei KVen und auch in der Politik im Grunde bisher nicht geschehen. Jetzt kommt allerdings langsam Fahrt in die Diskussion, weil es im Zuge der Dienstleistungsrichtlinie mehr als bisher um Einfluss, Macht und Geld im nationalen Raum geht.