Das Europäische Sozialmodell

Vom Leistungsstaat zum Gewährleistungsstaat

2005 +++ Bernd Schulte +++ Quelle: Newsletter - Observatorium für die Entwicklung der sozialen Dienste in Europa. Ausgabe 2/2005

Zentrale Elemente

Das Europäische Sozialmodell beruht in den 15 "alten" EU-Mitgliedstaaten auf zwei großen Säulen: einem umfassenden und leistungsfähigen System des sozialen Schutzes, das die Bürger gegenüber den typischen sozialen Risiken absichert, und dem sozialen Dialog, d.h. zum einen dem Dialog der politischen Instanzen mit den Sozialpartnern sowie zum anderen dem Dialog der Sozialpartner untereinander, sowohl auf nationaler wie auf supranationaler Ebene. Der Europäische Rat Barcelona vom März 2002 hat das Europäische Sozialmodell (ESM) wie folgt definiert:

"Das Europäische Sozialmodell stützt sich auf gute Wirtschaftsleistungen, ein hohes Niveau sozialer Sicherung, einen hohen Bildungs- und Ausbildungsstand und sozialen Dialog."

Zu den darin verkörperten Werten gehören u. a. Menschenwürde, Gleichheit, Gerechtigkeit, Solidarität und Subsidiarität. An diese Wertvorstellungen knüpfen nicht zufällig die Grundwerte, Grundprinzipien und Grundrechte an, die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und damit zugleich in Teil II des Vertrages über eine Verfassung für Europa Aufnahme gefunden haben.

Die Modernisierung des Europäischen Sozialmodells

Für die Zukunft stellt sich die Aufgabe, dieses Sozialmodell an die aktuellen Herausforderungen - die Globalisierung, die Europäische Integration, die demografische Entwicklung, den Wandel von Wirtschaft und Arbeitswelt vor allem in Gestalt des Übergangs von der Industriegesellschaft zur Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft u. a. - anzupassen, um es weiter leistungsfähig zu halten.

Diese gebotene Aktualisierung und Fortschreibung des Europäischen Sozialmodells hängt eng mit einer wachstumsorientierten Wirtschaftspolitik, einer erfolgreichen Beschäftigungspolitik, einer Anpassung der sozialen Sicherungssysteme an die erwähnten aktuellen Herausforderungen auf nationaler Ebene sowie mit der Modernisierungsstrategie auf europäische Ebene zusammen, so dass dem ESM für die Zukunft eine politikleitende Funktion zukommen mag.

Da die moderne soziale Frage für die Mitgliedstaaten der EU zugleich eine europäische soziale Frage ist, muss auch die Anpassung des Modells an die veränderten Gegebenheiten zwangsläufig als Mehrebenenpolitik betrieben werden.

Instrumente zur Verwirklichung des Europäischen Sozialmodells

„Konvergente" Entwicklungen im Sozialbereich werden durch die sog. Offene Methode der Koordinierung als politischer Strategie in den Bereichen Beschäftigung und - seit 2000 - Sozialschutz verstärkt politisch gesteuert.

Um u.a. eine Ausweitung des Beschäftigungsvolumens im Dienstleistungssektor zu erreichen, legte die Europäische Kommission im Februar 2004 den Entwurf einer Dienstleistungsrichtlinie vor, die den Binnenmarkt im Dienstleistungssektor verwirklichen soll. Er gründet auf dem Konzept einer weitgehenden Deregulierung.

Ihre eigentliche Bedeutung kommt der geplanten Verwirklichung der Binnenmarktfreiheiten durch den Wandel des Verhältnisses von nationaler sozialer Daseinsvorsorge und europäischem Wettbewerbsrecht zu. Es lässt sich seit den 1980er Jahren eine Entwicklung dahin registrieren, dass die Daseinsvorsorge in der Gestalt der unmittelbaren Leistungserbringung in staatlicher Regie in zunehmendem Maße durch ein neues Modell staatlicher Gewährleistung von Dritten in staatlichem Auftrag erbrachter gemeinwohlorientierter Dienstleistungen ersetzt wird. Dieser Wandel entspricht dem Übergang vom „intervenierenden“ Sozialstaat zu einem „aktivierenden" und "kooperativen" (zugleich aber auch „distanzierteren") Sozialstaat. Dieser Sozialstaat der Gegenwart zeichnet sich u. a. durch eine veränderte sowohl Wahrnehmung als auch Ausübung seiner Steuerungskapazitäten aus. Er wandelt sich vom Leistungsstaat zum Gewährleistungsstaat, u. a. mit der Folge, dass vermehrt wirtschaftliche Verfahrensabläufe Merkmal der modernen Staatsverwaltung sind. Verstärkt werden in diesem Zusammenhang auch wettbewerbliche Elemente eingesetzt, nicht zuletzt auch im Bereich der sozialen Leistungserbringung, die sich vermehrt auf einem „Sozialmarkt" und in wettbewerbsrechtlichen Strukturen vollzieht.

Das Gemeinschaftsrecht enthält insofern einen Gemeinwohlvorbehalt, indem EU und Mitgliedstaaten gemeinsam die Aufgabe übertragen wird, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen wirtschaftlichen und sozialen Zielsetzungen herzustellen und damit zugleich das Europäische Sozialmodell zu realisieren.

Dr. Bernd Schulte, Wissenschaftlicher Referent Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Sozialrecht, München, E-Mail: schulte@mpipf-muenchen.mpg.de