Eine Grenze für's Lebensalter zeichnet sich nicht ab

Seit 160 Jahren nimmt die Lebenserwartung jährlich um drei Monate zu - Der Trend ist eine Folge der industriellen Revolution

2005 +++ Ärzte Zeitung vom 12. Dezember 2005

Menschen können möglicherweise viel älter werden als bislang angenommen. Dies ist die Schlußfolgerung aus einer Studie, der zufolge die Lebenserwartung seit 160 Jahren um drei Monate im Jahr zunimmt. Zeichen für ein Abflauen dieses Trends sind nicht zu entdecken.

Während der vergangenen 10 000 Jahre betrug die Lebenserwartung konstant 35 bis 40 Jahre. Von 1800 an jedoch begann sie zu steigen, von 1840 an recht rasch, berichtete Dr. Rasmus Hoffmann vom Max-Planck-Institut für Demographische Forschung in Rostock. Dieser Trend setzte schon ein, bevor sich der medizinische Fortschritt anbahnte. Wahrscheinlich ist er eine Folge der industriellen Revolution, die mit einer Verbesserung von Lebensstandard, sanitären Verhältnissen, Trinkwasser und Ernährung, Ausbildung und öffentlicher Gesundheitsvorsorge einherging. In ihrer Studie hatten Wissenschaftler die Rekordlebenserwartung seit 1840 ermittelt und mit historischen Prognosen verglichen. 1840 waren die schwedischen Frauen mit etwa 45 Jahren führend, heute liegen die Japanerinnen mit etwa 85 Jahren weltweit vorn. Auch bei Männern stieg die Lebenserwartung kontinuierlich, allerdings langsamer. So wurden die Frauen vor 160 Jahren im Schnitt zwei Jahre älter als die Männer, heute beträgt der Unterschied sechs Jahre. Erstaunlich ist die Regelmäßigkeit im Anstieg der Lebenserwartung, der sich seit 160 Jahren durch eine Gerade beschreiben läßt. Daraus ist abzuleiten, daß sie 2060 zum Beispiel in Deutschland, Frankreich oder Japan 100 Jahre betragen wird.

Wie Hoffmann beim Neurologenkongreß in Wiesbaden betont hat, gibt es keinen Hinweis, daß die maximale Lebenserwartung in absehbarer Zeit erreicht werde. In der Vergangenheit haben Forscher mit dem Argument biologischer Barrieren wiederholt Obergrenzen für die Lebenserwartung vorhergesagt - und sich stets geirrt.

Die Lebenserwartung eines Neugeborenen wird berechnet als die durchschnittliche Zahl der Jahre, die es leben würde, wenn die für dieses Kalenderjahr geltenden Sterbeziffern unverändert blieben. Dabei ist schon der Geburtsmonat relevant: Auf der Nordhalbkugel leben im Herbst geborene Kinder ein halbes Jahr länger als Frühlings-Kinder, auf der Südhalbkugel verhält es sich genau umgekehrt. Damit haben offenbar die Ernährung oder das Klima in der frühesten Säuglingszeit einen Einfluß, der über das ganze Leben anhält.

Selbst mit 90 kann man noch die Lebenserwartung steigern

Dagegen verkürzt eine spätere Periode des Nahrungsmangels die Lebensspanne nicht, wie eine Analyse der Hungersnot von 1866 bis 1868 belegt. Allgemein gilt dennoch für die Lebenserwartung: Für eine Änderung ist es nie zu spät, selbst noch für einen 90jährigen kann sich ein Zusammenspiel mehrerer Variablen positiv oder negativ auswirken, darunter Bildung, Einkommen, Ernährung, medizinische Versorgung, Hygiene und Gesundheitsverhalten.

So lag dem Anstieg der Lebenserwartung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Rückgang hauptsächlich der Kindersterblichkeit zugrunde, nach 1950 dagegen hatten die verbesserten Überlebenschancen der Menschen über 65 Jahre den größten Einfluß. Ebenso bedingte in der DDR vor allem die erhöhte Sterberate älterer Menschen die im Vergleich zum Westen Deutschlands verringerte Lebensspanne. Die Sterberaten bei Kindern und Jugendlichen waren in beiden Gebieten etwa gleich. Als nach 1989 die westdeutsche Rentenpolitik auf die ehemalige DDR ausgedehnt wurde, verfügten die Senioren dort über Geld für vitaminreiches Essen und kamen in den Genuß von guten Medikamenten, Altersheimen und Krankenhäusern. Die Folge: die Lebenserwartung im Osten nahm nach der Vereinigung sprunghaft zu. Freilich leben die Menschen nicht nur länger, sondern sie bleiben auch länger gesund. Seit wenigen Jahrzehnten haben die meisten Individuen eine gute Chance mitzuerleben, wie ihre Kinder heiraten und ihre Enkel aufwachsen.

Alte Menschen können junge entlasten

Gravierende Folgen müßten diese Ergebnisse nach Hoffmanns Ansicht für Arbeits-, Gesundheits- und Rentenpolitik haben. Als Bismarck die Rentenversicherung beschloß, ab 70 übrigens, wußte er ganz genau, daß die Lebenserwartung damals im Deutschen Reich deutlich unter 65 lag. Heute jedoch sollte die Faustformel - 25 Jahre Ausbildung, 35 Jahre Arbeit, 40 Jahre Freizeit (als Rentner) - revidiert werden. Günstig wäre es, die Grenzen zwischen diesen Phasen aufzuweichen, damit auch ältere Menschen neue Fertigkeiten lernen können. Vor allem sollten sie länger berufstätig sein, um die 30- bis 50jährigen zu entlasten, die bisher durch Beruf und Kindererziehung die Hauptmasse der Arbeit tragen.