Bundesverfassungsgericht gegen EuropŠischen Gerichtshof?

Der Präsident des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte über das schwierige Verhältnis zum Bundesverfassungsgericht

2004 +++ Luzius Wildhaber / SPIEGEL-Interview +++ Quelle: Der Spiegel 47/2004, 50-54

Auszüge:

SPIEGEL: Herr Präsident, werden in Deutschland die Menschenrechte nicht mehr genügend beachtet?

Wildhaber: Es  ist Aufgabe der deutschen Gerichte und des Bundesverfassungsgerichts, die Menschenrechte bei Ihnen zu garantieren. Das deutsche Verfassungsgericht schützt die Grundrechte des Grundgesetzes, die sind im Prinzip absolut dasselbe wie die Menschenrechte der Europäischen Konvention, auf deren Einhaltung wir hier in Straßburg zu achten haben.

Wir kümmern uns nicht darum, ob eine staatliche Regelung Verfassungsrang hat. Wenn sie gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstößt, muss sie geändert werden. Dazu hat sich auch die Bundesrepublik verpflichtet. Wir prüfen auch Verfassungsnormen. Unsere Urteile stehen. Punkt.

Vor allem tut mir weh, dass zum Teil offenbar die Konvention nicht gelesen wurde. Da steht ganz klar drin, dass die Staaten sich verpflichten, unseren Urteilen Folge zu leisten: Das bindet alle deutschen Staatsorgane.

Wenn unser Urteil nicht beachtet wird und der Fall erneut zu uns kommt, werden wir abermals eine Verletzung der Konvention feststellen müssen. Jedenfalls sollte diese rein deutsche Auseinandersetzung um die Bindungswirkung der Menschenrechte stärker das europäische Element berücksichtigen. Da würde ich mir gerade bei den Deutschen mehr europäisches Verantwortungsbewusstsein wünschen.

Moderne Souveränität kann in Europa nur bedeuten, dass der Staat, auch der deutsche, seine Beschränkungen anerkennt und sich den Menschenrechten, den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie unterwirft. Anders können wir uns Souveränität nicht mehr vorstellen.

Mir geht es nur darum, dass die Europäische Menschenrechtskonvention und die sich aus ihr ergebenden völkerrechtlichen Verpflichtungen von allen Vertragsstaaten gleichermaßen beachtet werden. Wir dürfen hier nicht mit zweierlei Maß vorgehen.

Die Bundesrepublik Deutschland hat bisher die völkerrechtlichen Verpflichtungen immer höher gehalten als die nationalen Interessen. Ich würde es sehr bedauern, wenn sich das ändern sollte.

Welchen Rang die Konvention in ihrer Verfassungsordnung hat, ist Sache der Deutschen. Wenn es allerdings zunehmend Schwierigkeiten bei der Umsetzung unserer Urteile gibt, müsste man darüber nachdenken, der Konvention in Deutschland einen höheren Stellenwert einzuräumen. Wie das die meisten anderen Länder übrigens getan haben. In der Türkei stehen die Menschenrechte über der nationalen Gesetzgebung.

Spiegel: Als europäischer Wächter gehört der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR, Sitz Straßburg) zum Europarat, einem Zusammenschluss von 46 Staaten.

Er ist zu unterscheiden vom Gerichtshof der Europäischen Union (Sitz Luxemburg). Der EGMR wacht über die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention. Sie verbürgt ähnlich dem Grundgesetz elementare Rechte. Wer vor nationalen Gerichten scheitert, kann eine Beschwerde an den EGMR richten. Dle Staaten haben sich verpflichtet, dessen Urteile zu befolgen. Zuletzt kam es zu Differenzen mit dem Bundesverfassungsgericht. Die Gerichte urteilten in mehreren Fällen unterschiedlich, etwa über den Schutz Prominenter vor der Presse (Caroline-Urteil). Zudem betonte Karlsruhe, deutsche Gerichte und Behörden müssten die Straßburger Urteile nur berücksichtigen, soweit es die deutschen Gesetze zulassen.

Jeder Staat, der die Menschenrechtskonvention ratifiziert hat, stellt einen Richter am EGMR. Dessen Präsident ist - seit der Reform der Organe des Europarats 1998 - der Schweizer Luzius Wildhaber. Der 67-Jährige wirkte als Professor an Schweizer Universitäten sowie als Richte am Staatsgerichtshofe Lichtensteins und am Verwaltungsgericht der Inter-American Development Bank.