Thesen zu einer Europa-tauglichen Ausbildung deutscher Ärzte

Ausrichtung an den zukünftigten Aufgaben

2004 +++ Jost Brökelmann +++ Quelle: Med Ausbild 2004;21: 39-41

Zusammenfassung

Die zukünftigen Aufgaben deutscher Ärzte werden anhand von drei Thesen diskutiert: These 1: Die ärztliche Versorgung wird aus ökonomischen Gründen überwiegend ambulant und in kleineren Einheiten (u.a. Praxiskliniken) erfolgen. These 2: Die mündigen Bürger werden Transparenz der Ergebnisqualität, z. B. von Operationen, verlangen. These 3: Die Aktivitäten der niedergelassenen Ärzte müssen europäischem Recht genügen.

Konsequenzen für die Medizinerausbildung sind: 1. Die praktische Ausbildung der Medizinstudierenden sollte überwiegend in Praxen und Praxiskliniken stattfinden. 2. Die theoretische Ausbildung der Mediziner sollte weiterhin an Universitäten oder privaten Medizinschulen erfolgen. 3. Beide Gesichtspunkte sprechen für ein duales System der Ausbildung. 4. Ärzte sollten während ihrer Ausbildung fachspezifische Kenntnisse in Betriebswirtschaft erlangen. 5. Die Forderung nach gleichen Wettbewerbschancen für deutsche Ärzte in Europa beinhaltet, dass auch die deutschen Schul- und Ausbildungssysteme an europäische Gegebenheiten angepasst weiden.

Einleitung

Das deutsche Gesundheitssystem befindet sich im Umbruch. Das umlagefinanzierte Sozialsystem ist hoch verschuldet: Es klafft eine Nachhaltigkeitslücke von 236 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP), also fünf Billionen Euro (Fetzer u. Raffelhüschen 2003). Daraus ergeben sich u.a. zwei Konsequenzen:

  1. Der Sozialstaat ist „pleite“. Dieses wird gravierende Auswirkungen auf alle staatlichen Institutionen, auch auf unsere staatlichen Universitäten haben. Ausreichende Finanzmittel für Reformen, die dem Staat Geld kosten, sind auf lange Sicht nicht zu erwarten.
  2. Die Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) werden mehr Eigenverantwortung und eine höhere Eigenbeteiligung an den Gesundheitskosten aufbringen müssen. Zusätzlich wird der finanzielle Druck stärker, stationäre Behandlung durch ambulante zu ersetzen.

Der Arzt von heute und morgen muss deshalb anders ausgebildet werden als die Ärzte vor zehn oder 30 Jahren. Deshalb sollen zunächst – gerade auch unter wirtschaftlichen Aspekten – die zukünftigen Aufgaben deutscher Ärzte umrissen werden, um dann als Konsequenz aus diesem zukünftigen Arztbild Thesen für die zukünftige Medizinerausbildung zu formulieren.

1. Zukünftige Aufgaben deutscher Ärzte

These 1
Die ärztliche Versorgung wird aus ökonomischen Gründen überwiegend ambulant und in kleineren Einheiten (Gemeinschaftspraxen, Tageskliniken, Praxiskliniken) erfolgen

Der internationale Trend zum ambulanten Operieren ist eindeutig (De Lathouwer und Poullier 1998, 2000). Besonders die industrialisierten Staaten wie USA und Kanada, aber auch Australien und England sind vorangegangen – hauptsächlich aus Kostengründen –, ärztliche Leistungen überwiegend ambulant zu erbringen. So wurden 1997 schon 73% aller operativer Eingriffe in den USA ambulant durchgeführt (De Lathouwer und Poullier 1998, 2000). Aus Deutschland gibt es keine genauen Daten. Die Rate der ambulant durchgeführten Operationen dürfte zwischen 10-25% liegen. In der Mamma-Chirurgie wurden z.B. 1995 in den USA 94% aller Brustoperationen ambulant durchgeführt, in Deutschland wahrscheinlich nur um 10%. In Deutschland beginnt erst jetzt dieser Wandel hin zum ambulanten Operieren: So einigten sich kürzlich die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG), die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) und die Krankenkassenverbände im Vertrag zum ambulanten Operieren am Krankenhaus nach SGB V, §115b, dass alle Brustknotenentfernungen ab dem Jahre 2005 wenn möglich ambulant erfolgen sollen (Deutsches Ärzteblatt 2003).

Die ambulante Durchführung von Operationen ist auch in Deutschland wesentlich kostengünstiger als eine stationäre Behandlung: In einer vom Bundesminister für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie durchgeführten multizentrischen Evaluierung wurde nachgewiesen, dass die untersuchten Tracer-Operationen in Tageskliniken bei ambulanter Durchführung etwa halb so teuer waren wie die Durchführung im Krankenhaus bei stationärer Versorgung, wobei sogar die totalen Fallkosten, d.h. inklusive Nachbetreuung, ermittelt wurden (Eichhorn und Eversmeyer 1999). Diese Daten sprechen dafür, dass kleinere Operationseinheiten kostengünstiger arbeiten können als Krankenhäuser. Dabei kommt es darauf an, dass jeweils ein Operationsraum mit einem dazugehörigen Operationsteam gut ausgelastet ist; dann kann die Ein-OP-Raum-Tagesklinik genauso kostengünstig arbeiten wie eine Vier-OP-Raum-Tagesklinik (Brökelmann 2001).

Die ärztliche Versorgung, besonders in den ländlichen Gebieten, wird deshalb voraussichtlich in einem flächendeckenden Netz von Tageskliniken bzw. Praxiskliniken erfolgen ähnlich wie es die chirurgischen D-Arzt-Praxen für die Behandlung von Arbeitsunfällen der Berufsgenossenschaft (BG) schon heute tun.

These 2
Die mündigen Bürger werden verlangen, dass die Qualität ärztlicher Leistung gemessen und dem Patienten offengelegt wird (Ergebnisqualität)

Die Qualität ärztlicher Leistungen, besonders von operativen Eingriffen, kann auf bestimmten Gebieten durchaus gemessen werden, nämlich an Komplikationsraten, Wiedereinweisungen ins Krankenhaus, Mortalitätsraten und Wartezeiten für Patienten vor und nach der Operation. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass für die Beurteilung der Qualität nicht nur nachfolgende Ärzte befragt werden müssen, sondern in erster Linie die betroffenen Patienten und Patientinnen. Gerade bei der Beurteilung der Wundheilungsstörungen ist die Einschätzung der Patienten von großer Bedeutung. Die Komplikationsraten sollten zumindest den betroffenen Patienten offengelegt werden, damit die Patienten sich entscheiden können, wo sie sich ärztlich behandeln lassen wollen. Dieses wird immer häufiger von den Patienten bei der Aufklärung vor operativen Eingriffen gefordert werden.

Von den Patienten wird nicht nur Transparenz in Bezug auf Komplikationsraten gewünscht, sondern auch Transparenz über die wichtigsten Tätigkeiten einer operativen Einheit. Diese Aktivitäten werden in jährlichen Tätigkeitsberichten erfolgen, wie sie von der Gesundheitsministerkonferenz schon seit längerem gefordert werden und in Einzelfällen veröffentlicht wurden (Brökelmann 2003).

Alle Fachärzte, ob Chefarzt, niedergelassener Arzt oder angestellter Arzt, werden in Zukunft dem Primat der Ergebnisqualität unterliegen, wie schwierig diese auch zu messen ist. Als Beispiel für erfolgreiche Qualitätssicherung wäre hier die bundesweite Perinatalstudie zu nennen, die wesentlich dazu beigetragen hat, dass die perinatale Mortalität in Deutschland seit 1976 sank und heute zu den niedrigsten der Welt zählt.

These 3
Die Aktivitäten der niedergelassenen Ärzte müssen europäisches Recht berücksichtigen

Die Europäische Union ist auf den Grundfreiheiten, u.a. der Dienstleistungsfreiheit und des freien Wettbewerbs, aufgebaut. Niedergelassene Ärzte sind nach Urteil des Europäischen Gerichtshofes Unternehmer (EuGH Az.: C-180/98 bis C-184/98). Dieser Aspekt, nämlich das Unternehmertum der niedergelassenen Ärzte,  wird derzeit in Deutschland bei der Ausbildung der Mediziner noch nicht berücksichtigt.

Die angehenden Ärzte sollten sich über ihre Rechte und Pflichten im zukünftigen Europa unterrichten: Sie werden dem freien Wettbewerb innerhalb Europas ausgesetzt sein; schon jetzt können sich Ärzte in allen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union niederlassen; ambulante Operationen können in ganz Europa durchgeführt werden und müssen von den jeweiligen nationalen Sozialsystemen durch Kostenerstattung bezahlt werden.

Von entscheidender Bedeutung für die angehenden deutschen Ärzte wird jedoch sein, dass sie im europäischen Wettbewerb keine Nachteile durch nationale Gesetzgebung erfahren. So muss sich der deutsche Gesetzgeber fragen lassen, ob eine gesetzliche Wehrpflicht nicht die Deutschen im europäischen Wettbewerb benachteiligt; ähnliches gilt für eine Schulausbildung von 13 Jahren, wenn in Europa 12 Jahre üblich sind,  sowie die lange Dauer des Universitätsstudiums. Dieses sind nur einige Beispiele, bei denen die Deutschen derzeit Wettbewerbsnachteile in Kauf nehmen müssen.

2. Konsequenzen für die zukünftige Medizinerausbildung

Die Thesen zu den zukünftigen Aufgaben deutscher Ärzte lassen folgende Konsequenzen für die ärztliche Ausbildung sinnvoll erscheinen:

  1. Die praktische Ausbildung der Medizinstudenten sollte überwiegend in kleineren Einheiten stattfinden. In diesen Gemeinschaftspraxen, Praxiskliniken, Tageskliniken oder Einzelpraxen, die meist privatwirtschaftlich organisiert sind, werden in Zukunft die meisten Patienten behandelt werden. Dort wird Medizin praktiziert und dort sollten angehende Mediziner auch ihre praktische Ausbildung erhalten. Es bietet sich an, dass diese Ausbildung im Rahmen eines Experten-Lernenden-Verhältnis (Meister-Schüler-Verhältnis) stattfindet.  Das Modell entspricht dem von Eitel (1995) zitierten Expertengeleiteten Lernen. Die praktischen Fähigkeiten sollten schon möglichst früh ausgebildet werden, d.h. mit 20-22 Jahren, damit Fingerfertigkeiten z.B. beim Operieren früh genug erworben werden; zusätzlich sollte der menschliche Kontakt zu den Patienten möglichst früh beginnen.
    Ein weiterer Gesichtspunkt ist, dass angehende Ärzte früh Teamarbeit unter Qualitätsgesichtspunkten erlernen. Dieses ist am besten in diesen kleinen Einheiten möglich, wo jedes Teammitglied über die Patientenrückmeldungen unmittelbar über die Ergebnisqualität der Arbeit erfährt.
  2. Die theoretische Ausbildung der Mediziner sollte weiterhin an Universitäten bzw. an neuen privaten Medizinschulen, die einzurichten sind,  stattfinden. An beiden Institutionen können angehende Ärzte in Übungsräumen (skills labs, Brökelmann 1985) nach allgemein anerkannten Grundlinien lernen, vorhandene Leitlinien können in entsprechenden Vorlesungen und Seminaren erörtert werden, Literaturrecherchen können über das Internet geübt werden; außerdem sind diese Institutionen für unabhängige wissenschaftliche Arbeiten erforderlich, besonders für die Grundlagen des Lernens und des Lehrens. Die Veränderungen im Curriculum sollten theoretisch begründet und empirisch abgesichert sein (Eitel 1995).
  3. Die praktische Ausbildung in kleineren Einheiten und die theoretische Ausbildung an Universitäten/Medizinschulen sprechen dafür, dass die ärztliche Ausbildung in einem dualen System der Ausbildung stattfinden sollte. Das Duale System, das ursprünglich 1908 in Deutschland von Kerschensteiner als Prinzip der Arbeitsschule eingeführt wurde (Kerschensteiner 1922), hat sich bewährt und findet – auch für die Verbindung von beruflicher und akademischer Ausbildung - in zunehmendem Maße Zuspruch in der jüngeren Generation (Konigen-Grenier und Werner 2001). Es wurde von Renschler für die medizinische Ausbildung vorgeschlagen (Renschler 2002).
  4. Zukünftige Ärzte sollten während ihrer Ausbildung fachspezifische Kenntnisse in   Betriebswirtschaft erlangen, u.a. im Praxismanagement. Da von den Ärzten in Krankenhäusern in zunehmendem Maße auch wirtschaftliches Denken gefordert wird, sollte Gesundheitsökonomie zu einem Lehrfach in der Medizin werden.
  5. Das vorgeschlagene Modell einer Medizinerausbildung kann im Rahmen der bestehenden Approbationsordnung vom 27. Juni 2002 (§ 41 Absatz 1, 4 sog. Modellstudiengang) von den Ländern schon heute zugelassen werden.
  6. Die Forderung nach gleichen Wettbewerbschancen für deutsche Ärzte in Europa wird darauf hinauslaufen, dass nicht nur die akademischen Abschlüsse europaweit anerkannt werden, sondern dass auch die deutschen Schul- und Ausbildungssysteme an europäische Gegebenheiten angepasst werden.

Danksagung: Herrn Prof. Dr. H. Renschler danke ich für wertvolle Hinweise.

Literatur

Brökelmann J. Verbesserungsmöglichkeiten der studentischen Ausbildung in Gynäkologie und Geburtshilfe. Der Frauenarzt 1985; 3: 35-44

Brökelmann J. Betriebswirtschaft der OP-Einheit. ambulant operieren 2001;1: 14-17 (www.arzt-in-europa.de)

Brökelmann J. Leistungsberichte einer gynäkologischen Tagesklinik. Leistungsberichte einer gynäkologischen Tagesklinik. ambulant operieren 2003; 1: 44-46 (www.arzt-in-europa.de)

De Lathouwer C, Poullier JP. Ambulatory surgery in 1994-1995: The state of the art in 29 OECD countries. Ambulatory Surgery 1998; 6: 43-55

De Lathouwer C, Poullier JP. How much ambulatory surgery in the World in 1996-1997 and trends?  Ambulatory Surgery 2000; 8: 191-210

Deutsches Ärzteblatt: Neuer Vertrag nach § 115b Abs.1 SGB V. Deutsches Ärzteblatt 2003; 100, vom 12.09.2003, A-2342/ B-1955/ C-1847

Eichhorn S, Eversmeyer H. Evaluierung endoskopischer Operationsverfahren im Krankenhaus und in der Praxis aus Sicht der Medizin, des Patienten und der Ökonomie. Multizentrische Evaluierung endoskopischer Operationsverfahren. Stuttgart: Thieme, 1999

Eitel F. Lernforschung als Voraussetzung für die Unterrichtsorganisation. In: Innovationen und Trends des Medizinstudiums im klinischen  Teil. Bd. II. Hrsg. K.-H. Bichler, W. Mattauch, H.W. Wechsel. Frankfurt am Main: pmi-Verl.-Gruppe. 1995

Fetzer S, Raffelhüschen B. Gesundheitsreform 2003 verfehlt ihre Wirkung auf die Nachhaltigkeit. Süddeutsche Zeitung  SZ vom 27.08.2003 (www.arzt-in-europa.de)

Kerschensteiner G. Begriff der Arbeitsschule. Leipzig Berlin: Teubner 1922

Konigen-Grenier C, Werner D. Duale Studiengänge an Hochschulen. Studienführer. Dt. Institutsverlag 2001

Renschler H. Erfahrungsbasiertes Medizinstudium. Med. Ausbild 2002;19: 13-19