Sozialstaat auf Pump?

Erst korrektes Wirtschaften erlaubt, Gutes zu tun

2004 +++ Jost Brökelmann +++ Quelle: privat

1967 erlebte ich in den USA den Wahlkampf zwischen Kennedy und Nixon. Ein Hauptthema,  mit dem Kennedy die amerikanische Bevölkerung damals zu motivieren versuchte, war die Aussage, dass das amerikanische Volk Schulden in Höhe eines ganzen Bruttoinlandproduktes (BIP) hatte und dass diese Schulden abgebaut werden müssten. Für uns Deutsche war das eine Bestätigung der bei uns verbreiteten Ansicht, dass die Amerikaner wegen ihrer Neigung, „auf Pump“ zu kaufen, über kurz oder lang in finanzielle Schwierigkeiten geraten würden. Wir waren nämlich davon überzeugt, dass die Deutschen sparsamer wirtschaften würden als die Amerikaner.

Deutschland lebt „auf Pump“

Heute wissen wir, dass die Schulden Deutschlands  5 bis 6 Billionen Euro betragen, das ist etwa das 2,6-fache des Bruttoinlandprodukts (BIP) (Fetzer, Raffelhüschen 2003). Das sind im Verhältnis weitaus mehr Schulden, als die Amerikaner damals hatten. Die „offiziellen“ deutschen Staatsschulden, die in Brüssel gemeldet werden, betragen zwar nur 63 – 64% des BIP; der Rest sind „verdeckte“ Schulden in den Sozialsystemen (Renten, Pensionen usw.), die erst in letzter Zeit genauer berechnet werden konnten (Fetzer, Moog, Raffelhüschen 2003). Es wird immer deutlicher, dass der deutsche Sozialstaat über seine Verhältnisse gelebt hat, und zwar überwiegend auf Kosten der jüngeren Generationen. Der Sozialstaat missachtete die Nachhaltigkeit seiner eigenen Politik. Die deutsche Gesellschaft lebte nach dem Motto "Soziales Engagement ist gut; wir richten überall soziale, das heißt  „gute“ Verhältnisse ein, und zwar mit Hilfe des Staates“.  Der Sozialstaat wurde zum Rundumversorger. Diese Sozialidee hat die Deutschen blind gemacht, einmal gegenüber wirtschaftlichen Grundregeln, zum anderen gegenüber den  im Grundgesetz verbrieften Rechten des Individuums. Nach dem Motto "der Zweck heiligt die Mittel" und im Vertrauen auf eine gesunde Wirtschaft (beides sind Glaubensangelegenheiten) haben wir Deutschen mehrheitlich geglaubt, es sei bei kollektiver Anstrengung alles machbar und zu bezahlen (siehe Wiedervereinigung Deutschlands).

Sozialidee als religiöse Überzeugung

Überall fasste diese Sozialidee Fuß: Studenten studieren umsonst,  Pendler erhalten eine Vergünstigung für die Auto- oder Bahnfahrt, Rentner zahlen halbe Eintrittspreise, und so weiter und so fort. Ärzte haben diese Bewegung mitgemacht: Wir nehmen deutlich mehr von den Privatpatienten, um Defizite aus Kassenarzttätigkeit zu subventionieren. Das nennt man innerbetrieblichen Solidarausgleich. Unser öffentliches Leben ist von der Sozialidee durchdrungen. Ziel dieser Idee ist, gute Lebensbedingungen für alle zu erhalten, also bessere Lebensbedingungen für mindestens die „untere“ Hälfte der Bevölkerung. Ziel war nicht, nur die Armen und Schwachen zu unterstützen. Dieses Sozialengagement wäre nämlich nur für 5 bis 15 Prozent der Bevölkerung notwendig gewesen und nicht für mindestens 50 % der Menschen.

Der allgegenwärtige Sozialstaat hat quasi die Gesellschaft dazu gebracht, einige „kommunistische“ Heilslehren umzusetzen, um eine sozial angeglichene Bevölkerung zu formen. Wobei es in der Bevölkerung immer eine „untere“ Hälfte der weniger Verdienenden geben wird. Diese umfassende Sozialstaatsidee scheitert jetzt an wirtschaftlichen Zwängen, ähnlich wie die  sozialistischen Regime in der ehemaligen DDR und der Sowjetunion wegen wirtschaftlicher Probleme kollabiert sind.

Solidarausgleich über Steuern

Einen Ausweg aus diesem geistigen und  finanziellen Dilemma der Deutschen weist der Bericht der Herzog-Kommission (u.a. www.cdu-csu.de). Sie schlägt vor, dass der Sozialausgleich in erster Linie über das Steuersystem geschaffen wird, wo er nach unserer Verfassung hingehört.

Vorteile eines solchen Steuersystems wären:

Einige Konsequenzen für Ärzte und die Gesellschaft

Eine Umstellung der Sozialsysteme nach den Vorschlägen der Herzog-Kommission würde für uns Ärzte unter anderem folgende Konsequenzen haben:

Für die Gesellschaft würde das u.a. bedeuten, dass zum Beispiel ein - wie kürzlich gefordert - soziales Pflichtjahr nicht eingeführt wird. Der Grund für eine solche Zwangsverpflichtung ist offensichtlich  Mangel an Geld für die Pflege, falls die Wehrpflicht abgeschafft und Wehrpflichtverweigerer für die Altenpflege nicht mehr zur Verfügung stehen. Eine Zwangsverpflichtung würde außerdem dem verfassungsmäßigen Gebot der Menschenwürde widersprechen.

Ein Wegfall der Zivildienstleistenden würde zu mehr bezahlten Jobs in der Altenpflege führen, also die Arbeitslosenzahl verringern, aber auch den Betroffenen mehr Geld kosten.

Arbeit durch Geld ehren

Ein Rückgang der „kostenlosen“ sozialen Dienste würde natürlich bedeuten, dass wir Deutsche  für soziale Arbeit mehr Geld ausgeben müssen. Warum sollte auch nicht jeder, der Sozialarbeit leistet, finanziell entlohnt werden, wo doch das Geld die Hauptrolle im Ansehen dieser Gesellschaft spielt? Warum soll z.B. Kindererziehung nicht bezahlt werden? Kinder sind die wichtigste Investition eines Volkes in seine Zukunft. Dieses wird uns heute besonders bewusst, weil dem deutschen Volk Kinder fehlen, die unseren Wohlstand und unsere Sozialsysteme künftig bezahlen sollen. Wenn die Gesundheitsministerin des Landes Niedersachsens Frau Dr. van Leyen öffentlich ausrechnet, dass die Erziehung eines  Kindes etwa 230.000 Euro kostet, dann sind dieses über ca.18 Jahre um 1000 Euro Erziehungskosten pro Monat. Warum soll die Gesellschaft Erziehungsarbeit nicht wenigstens teilweise bezahlen? Dafür könnte ein Wust von Subventionen wie Kindergeld, Steuervergünstigungen und so weiter gestrichen werden. Mütter oder Väter, die zwei oder vier eigene oder fremde Kinder erziehen und betreuen, wären in Arbeit und fänden wahrscheinlich auch wieder mehr Anerkennung in der Gesellschaft.

Wenn wir Deutschen wieder soziale Arbeit ehren und belohnen, würden zahlreiche neue Arbeitsplätze in Altenpflege, Kindererziehung und im Gesundheitswesen geschaffen. Auch wenn die Gesundheit wieder mehr Geld kostet, dürfte es in der Bevölkerung ein wachsendes Interesse an gesunder Lebensführung geben. Denn ungesunde Lebensführung (falsche Eßgewohnheiten, Bewegungsarmut, geistiges Angespanntsein, und so weiter) führen zu Krankheit und vorzeitigem Tod. Wie sinnvolle Lebensführung aussieht, die wenig Geld kostet, wurde u.a. an den Über-Hundertjährigen von Okinawa studiert: Gesunde Ernährung mit zahlreichen Mahlzeiten und wenig Fett, körperliche und geistige Tätigkeiten u.a. im Garten und beim Spiel, Meiden von Nikotin und Alkohol, und innere Ausgeglichenheit sind die Hauptmerkmale, die zu hohem Alter führen (Willcox et al. 2001).

Zusammenfassung

Wir dürfen im Sozialstaat nicht mehr Geld ausgeben als bei langfristiger Finanzplanung erwirtschaftet wird.

Das Ausmaß der Verschuldung des Sozialstaats wird deutlicher, wenn der von allen gewünschte Solidarausgleich über Steuern erfolgt und auf einem Posten sichtbar wird.

Die Menschenwürde und der Wunsch, mehr Mitgliedern der Gesellschaft bezahlte Arbeit zu  geben, machen erforderlich, dass soziale Arbeit insbesondere Kindererziehung auch finanziell anerkannt werden.

Literatur:

Fetzer S, Raffelhüschen B, Gesundheitsreform 2003 verfehlt ihre Wirkung auf die Nachhaltigkeit. Eine Nachhaltigkeitslücke von vier Billionen Euro bleibt.
Süddeutsche Zeitung SZ - 27.08.2003 http://www.arzt-in-europa.de/

Fetzer S, Moog S, Raffelhüschen B, Die Nachhaltigkeit der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung: Diagnose und Therapie. Die "Freiburger Agenda" legt konkrete Zahlen vor. Webseiten der Uni Freiburg Februar 2003

Willcox BJ, Willcox C, Suzuki M. The Okinawa Program. Three Rivers Press, New York 2001