Elektronische Gesundheitskarte - der Weg in die Staatsmedizin?

"Deutscher Sonderweg" bedeutet Entmündigung des Patienten

2004 +++ Jost Brökelmann +++ Quelle: ambulant operieren 4/2004, 161-163

Elektronische Gesundheitskarte wird zur Machtfrage

Die Einführung einer Gesundheitskarte als Versicherungsausweis, ggf. auch für Rezeptschreibung, ist von der Europäischen Union beschlossen und wird allgemein akzeptiert. Was jedoch umstritten ist, ist der „Deutsche Sonderweg“, auf diese elektronische Gesundheitskarte auch Krankheitsdaten von dem Kartenbesitzer abzuspeichern. Das Bundesministerium für Gesundheit und Soziales (BMGS) und die Industrie wünschen eine zentrale Speicherung dieser Daten auf einem Server, die Ärztevertreter kämpfen für eine dezentrale Archivierung in den Arztpraxen. Die Ärzte- Zeitung berichtete darüber am 9. November 2004 unter dem Titel „Hinter der Technikdebatte um die elektronische Gesundheitskarte steht ein Streit um Einflusssphären“. Nach dem Motto „Wer die Daten hat, hat die Macht“ versucht das BMGS, eine zentrale Verwaltung aufzubauen; denn wenn die elektronischen Informationen in den Arztpraxen lägen, hätten das BMGS und die Industrie keinen Zugriff auf sie. In diesem Kampf um die Daten dürften die Ärzteverbände am kürzeren Hebel sitzen, da sie weitgehend staatsabhängig sind. Deshalb soll im Folgenden den Fragen nachgegangen werden: Warum müssen persönliche Krankheitsdaten als Datei gespeichert werden und nicht wie bisher auf Papier? Warum müssen elektronische Daten zentral gespeichert werden?

Ziele des BMGS

Als Ziele der elektronischen Gesundheitskarte nennt das BMGS unter anderem (Tab. 1): Verbesserung der Qualität, Stärkung der Eigenverantwortung, Steigerung der Wirtschaftlichkeit, Optimierung von Arbeitsprozessen, Leistungstransparenz im Gesundheitswesen, Bereitstellung von aktuellen gesundheitsstatistischen Informationen.

Die ersten vier Gründe sind politische Absichtserklärungen, die beiden letzten weisen auf die wahren Gründe, die das BMGS zur Einführung der elektronischen Gesundheitskarte bewegen, nämlich die Gesundheitskarte als Instrument einer Staatsmedizin einzusetzen.

Aus Sicht der Ärzte bzw. der „Leistungserbringer“, wie das BMGS die Kassen- oder Vertragsärzte nennt, sehen die Vor- und Nachteile der elektronischen Gesundheitskarte anders aus:

Vorteile einer elektronischen Datei auf der Gesundheitskarte

Bislang ist ein Nutzen nur für den (Sozial-)Staat und die Industrie erkennbar: Der Staat erhält potentiell Zugriff auf Daten der Patienten und die Industrie verdient durch Verkauf neuer Technologien.

Für den Patienten sind keine Vorteile im Vergleich zur Papierdokumentation erkennbar, im Gegenteil: Im Zweifelsfall dürfte der Notarzt kein funktionstüchtiges Lesegerät zur Verfügung haben, und jedoch könnte der Patient statt einer elektronischen Karte auch die wichtigsten Daten in einem Notfallausweis bei sich tragen. Das BMGS zitiert zwar Vorteile, ohne jedoch den Beweis der Richtigkeit zu erbringen, und es erwähnt leider nicht Nachteile für Patient und Arzt.

Nachteile einer elektronischen Datei

Bislang sind nur Nachteile für den Bürger ersichtlich: Der Patient (übergeordneter Begriff für Patient/Patientin) kann zuhause seine eigene Gesundheitsdatei nicht lesen, da er kein Lesegerät besitzt. Lesegeräte sollen nach den bisherigen Diskussionen in Arztpraxen und Apotheken aufgestellt werden. Zu wessen Lasten diese Lesegeräte angeschafft und betrieben werden, ist nicht bekannt. Sollen die Bürger eventuell Gebühren für das Lesen ihrer eigenen Daten bezahlen?

Durch die fehlende Einsicht der Patienten in ihre Gesundheitsdaten werden die Patienten entmündigt, was für die Papier-Dokumentation nicht zutrifft. Eine zentrale Speicherung der Daten beinhaltet auch immer eine Missbrauchsgefahr durch den Staat oder die Industrie. Diese Missbrauchsgefahr ist bei einer Papier-Dokumentation, die der Patient selbst verwaltet, wesentlich geringer, wenn nicht ausgeschlossen.

Die Kosten für die Einführung einer elektronischen Gesundheitsdatei sind beträchtlich: Konservative Schätzungen gehen von Gesamtinvestitionen von rund 2,2 Milliarden Euro für die Karte selbst, für die Infrastruktur wie Programmier- und Lesegerät und für die Software und Trustcenter aus (1). Es wird damit gerechnet, dass laut KBV jede Praxis 2.000 bis 3.000 Euro Einführungskosten haben wird (2). Die zusätzliche monatliche Belastung pro Praxis wird auf etwa 50 Euro geschätzt (3).

Für den Krankenhausbereich hat J.M. Janas, Professor für Wirtschafts- und Organisationswissenschaft an der Münchener Universität der Bundeswehr, am Beispiel einer Augenklinik errechnet, dass die Klinik jährlich 21 000 Euro über viele Jahre zuzahlen müsste, bevor sich das System der elektronischen Patientenkarte rentieren könnte (4).

Ein Versand von elektronisch gespeicherten Gesundheitsdaten macht eine sichere Verschlüsselung der Daten oder eine Benutzung eines geschützten Intranet erforderlich. Beides wird die Kosten dieses Systems in die Höhe treiben.

Jeder, der einen eigenen PC benutzt und elektronische Daten versendet oder empfängt, weiß, wie anfällig die elektronische Datenübermittlung ist und wie schwierig es ist, sich vor „Datenklau“ durch „Hacker“ zu schützen. Wie viel größer werden diese Gefahren werden, wenn mit der Verwendung dieser personenbezogenen Daten Geld zu verdienen ist. Es ist absurd: Dem Bürger werden private Gesundheitsdaten entzogen, und diese müssen durch aufwändige Technik geschützt werden, nur damit der Staat Leistungstransparenz im Gesundheitswesen und gesundheitsstatistische Informationen (s. Tab. 1) erhält.

Vorteile von Papierdokumentationen

Fast jeder Bürger in Deutschland kann lesen. Die Bürger können also Briefe, Urkunden und ebenso ärztliche Befundberichte lesen. Papier ist das herkömmliche Dokumentationsmedium, das sich über Jahrhunderte bewährt hat. Papierdokumentation ist voraussichtlich auch billiger als die Summe der Kosten für die Chip-Karte (s. oben).

Der Inhalt von Papierdokumenten kann ebenso schnell wie eine elektronische Datei versandt werden, nämlich mit Faxgeräten. Faxgeräte sind jetzt weit verbreitet, sie stehen in den meisten Praxen und Krankenhäusern und zunehmend auch in privaten Haushalten, also bei den Bürgern. Eine Fax-Nachricht zu versenden bedarf keines besonderen Datenschutzes, da dieser in unserem Telefonsystem gewährleistet wird.

Der Hauptvorteil einer Papierdokumentation für den Bürger ist, dass das Dokument und damit seine Gesundheitsdaten in seiner Privatsphäre verbleiben.

Mündigkeit der Bürger sollte gestärkt werden

Ziel der Bemühungen um einen Fortschritt im Gesundheitswesen sollte sein, die Mündigkeit und damit Selbständigkeit der Bürger zu stärken. Diese Mündigkeit bedeutet auch Freiheit von staatlicher Bevormundung. Das Recht der Bürger - Patienten wie Ärzte - auf die Freiheit, mit seinen eigenen Gesundheitsdaten souverän umzugehen, ist im Grundgesetz von Deutschland und in der EU-Verfassung geschützt. Eine Übergabe von ärztlichen Befundberichten an den Bürger erhöht also seine Freiheit und Mündigkeit. Dieses spricht für eine Papierdokumentation. Auf der anderen Seite nimmt eine Auslagerung von persönlichen Gesundheitsdaten auf einen zentralen Speicher diesem Bürger Freiheiten, weil er nicht mehr über diese Daten unmittelbar verfügt. Die Speicherung von persönlichen Gesundheitsdaten in zentralem Archiv entmündigt den Bürger.

Bis vor kurzem war es nicht üblich, ärztliche Berichte auch den Patienten in die Hand zu geben, weil Ärzte glaubten, Patienten seien häufig nicht mündig, Arztbriefe zu lesen und den Inhalt zu verstehen. Diese Haltung der Ärzte wird als paternalistisch beschrieben. Es gibt jedoch genügend langjährige Erfahrungen, dass Patienten durchaus in der Lage sind, den Inhalt von Arztbriefen zu verstehen, wenn diese in einigermaßen verständlicher Sprache verfasst sind. So hat es sich bewährt, frisch operierten Patientinnen die OP-Berichte mitzugeben sowie Komplikationsraten einer Tagesklinik zu veröffentlichen (5,6). Es gibt keinen Grund, warum die Ärzte ihre Berichte nicht in verständlichem Deutsch abfassen können und warum die meisten Patienten nicht in der Lage sein sollten, ärztliche Gedankengänge zu verfolgen.

Vorschlag „Aktion mündiger Bürger“

Der Versuch des Staates, den Patienten mittels einer erweiterten Gesundheitskarte zu verwalten und damit zu entmündigen, sollte von den Ärzten mit einer Aktion für den Erhalt der Papierdokumentation beantwortet werden:

Vorteile der „Aktion mündiger Patient“

Fazit:

Wenn die Kassenärzte die Flucht nach vorn ergreifen und den Patienten alle krankheitsrelevanten Berichte in die Hand geben, erübrigt sich das elektronische Datenarchiv auf der Gesundheitskarte. Die ganze staatliche Intervention verpufft, weil die Menschen andere Wege gehen. Durch die „Aktion mündiger Patient“ stärken die Kassenärzte das Arzt-Patienten-Verhältnis, sie erlangen für sich und ihre Patienten mehr persönliche Freiheit und verhindern neue Überwachungsmöglichkeiten eines Sozialstaates.

Eine solche, vom BMGS geplante, weit in die Privatsphäre der Bürger eingreifende Maßnahme wie die erweiterte Gesundheitskarte sollte in Pilotprojekten ausgiebig erprobt und evaluiert werden, bevor sie flächendeckend eingeführt wird. Außerdem sollte eine vergleichende Analyse der Gesamtkosten der Verwaltung von personenbezogenen Krankheitsdaten

  1. als elektronisches Medium
  2. als Papierdokumentation

durchgeführt werden, besonders wo bisherige Berechnungen gegen das elektronische Medium sprechen (4). Da es bislang einen solchen Vergleich nicht einmal für die Führung einer Krankenakte in den Praxen gibt, muss bis zum Beweis des Gegenteils angenommen werden, dass Staat und Industrie - die beiden Befürworter einer elektronischen Datenverwaltung - diese Entwicklung aus Eigeninteresse zu Lasten der Bürger forcieren. Dann ist die Entscheidung des Staates jedoch eine machtpolitische - und dieser sollte mit politischen Mitteln begegnet werden, nämlich u. a. durch Gehorsamsverweigerung.

Literaturhinweise:

1: eGesundheitskarte - „Toll-Collect“ im Gesundheitswesen. Quelle: Arzt & Wirtschaft 4/2004, 72. BAO-MAO-Aktuell Nr. 17 (http://www.mao-bao.de/Aktuell29)

2: Unterschriftenaktion gegen die Gesundheitskarte gestartet. Quelle: Ärzte Zeitung vom 19. Oktober 2004. BAO-MAO-Aktuell Nr. 38 (http://www.mao-bao.de/Aktuell38.html)

3: Die Kosten der Gesundheitskarte kosten pro Arzt rund 50 Euro pro Monat. Quelle: Schütze-Brief Nr. 65/2004, 8. BAO-MAO-Aktuell Nr. 29. (http://www.mao-bao.de/Aktue1l29.html)

4: Ghanant H, Digitale Patientenakte. Abschied vom Papier. KMA 01/2004, 36-45. BAO-MAO-Aktuell Nr. 42 (http://www.mao-bao.de/Aktuell42.html)

5: Brökelmann, J., P. Bung: Komplikationsraten in der ambulanten operativen Gynäkologie, Frauenarzt 43 (2002), 1046-1051

6: Brökelmann J, Leistungsberichte einer gynäkologischen Tagesklinik. ambulant operieren 1/2003, 44-46 (http://www.arzt-in-europa.de)

7: Brökelmann J. Wirtschaftliche Praxisführung: Beispiel einer operativen Praxisklinik. In: Wirtschaftlich erfolgreich in der Arztpraxis. Hrsg. Riedel/Hansis/Wehrmann/Schlesinger. Deutscher Ärzte-Verlag Köln 2004 (im Druck)

8: Bundesministerium für Gesundheit und Soziales. Internet-Flyer (http://www.dimdi.de/de/ehealth/karte/flyer_din_lang.pdf)

Tab. 1 : Werbung des BMGS für die elektronische Gesundheitskarte (8)

Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung:

ZIELE DER ELEKTRONISCHEN GESUNDHEITS KARTE

Verbesserung der Qualität der medizinischen Versorgung, insbesondere der Arzneimittelsicherheit, Verbesserung patientenorientierter Dienstleistungen.

Stärkung der Eigenverantwortung und Mitwirkungsbereitschaft der Patientinnen und Patienten.

Steigerung der Wirtschaftlichkeit und Leistungstransparenz im Gesundheitswesen. Optimierung von Arbeitsprozessen und Bereitstellung von aktuellen gesundheitsstatistischen Informationen.

VORTEILE DER ELEKTRONISCHEN GESUNDHEITS KARTE

Vorteile für Patientinnen und Patienten:

Wichtige Gesundheitsdaten sind besser verfügbar (z. B. im Notfall und beim Arztwechsel). Dadurch wird eine qualitativ bessere Behandlung erreicht und die Verschreibung ungeeigneter Arzneimittel reduziert.

Sie bekommen einen besseren Überblick über ihren eigenen Gesundheitsstatus (z.B. Impfungen, Allergien, Verlauf chronischer Erkrankungen, Vorsorgeuntersuchungen).

Sie können entscheiden, ob und welche ihrer Gesundheitsdaten aufgenommen bzw., gelöscht werden sowie wer auf die Daten zugreifen darf. Die letzten 50 Zugriffe werden zu ihrer Sicherheit protokolliert und gespeichert.

Vorteile für Leistungserbringer:

Schnellerer Überblick über den Gesundheitsstatus der Patientinnen und Patienten in Notfallsituationen.

Optimierung von Arbeitsprozessen und damit mehr Zeit für die Patientinnen und Patienten. Verbesserung der Kommunikation und Reduzierung von Doppeluntersuchungen. Verbesserte Nutzung von Arzneimittelinformationssystemen und Fachdatenbanken.