Mit dem GKV-Modernisierungsgesetz (GMG) ist ein fundamentaler Perspektiven- und Paradigmenwechsel im deutschen Gesundheitswesen eingeleitet worden: Die Körperschaften der Ärzte als Selbstverwaltungen und (zumindest partiellen) Interessenvertretungen sind geschleift worden. Das gilt zunächst für die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) als den eigentlichen Machtzentren, die Ärztekammern werden folgen. In allen relevanten Regelungen des GMG gibt es zahlreiche staatliche Vorbehalte und Ersatzvornahmen, wenn das Ergebnis des Tuns der Ärzte unerwünscht ist. Das ist staatlich regulierte Medizin: Im Bereich der Gesetzlichen Krankenversicherung sind die Vertragsärzte Scheinselbstständige im Sinne des Gesetzes.
War die Stärke der Ärzteschaft früher ihre Einigkeit, so zerbrach diese Primärqualität unter dem Druck der wirtschaftlichen Krise. Parallel dazu lief ein zweiter Prozess ab: Die Ärzte verloren an politökonomischer Potenz, sowohl materiell als auch ideell. Die Führung einer Milliardenfirma, wie sie eine KV darstellt, quasi als Nebentätigkeit zur Praxis zu installieren, war ein gravierender Fehler der Ärzte. Kaum eine Berufsgruppe überschätzt ihre eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten so sehr wie die Ärzte. Folglich wurden sie von Politik und Krankenkassen gnadenlos über den Tisch gezogen. Honorarverteilungsmaßstäbe, Gebührenordnungen, floatende Punktwerte und Regresskonzepte wurden von ärztlichen Berufspolitikern mitgestaltet und verinnerlicht und bis zur Widersinnigkeit zum eigenen Schaden exekutiert.
In einer zunehmend komplexen Wirklichkeit helfen nur komplexe Werkzeuge und Verfahren. Dies neben einer Praxis organisieren zu wollen führt nur zur verkappten Leitung der Struktur durch die Geschäftsführung. Wie in den Krankenhäusern sind die Geschäftsführer immer häufiger die eigentlichen Herren, die Doctores sind die im Vordergrund imponierenden Schauprospekte des Theaters.
Langfristig erscheint die Etablierung einer einheitlichen politischen Vertretungsmacht der Ärzteschaft, die zentral aufgebaut ist, als überlebenswichtige Alternative. Die Funktionen von Ärztekammer und KV sollten à la longue in einer Selbstverwaltung zusammengefasst werden. Das bedeutet nicht, dass Regionalität abzulehnen ist ganz im Gegenteil. Diese darf bloß nicht die Zentralstruktur blockieren können. Regionale Serviceeinrichtungen bleiben unverzichtbar.
Eine Arbeitsgemeinschaft taugt nicht zur Interessenbündelung, insofern ist das Organigramm der Bundesärztekammer eher ein Negativbeispiel. Eine politisch wirksame und machtvolle zentrale Struktur ist zu entwickeln. Das Gewicht der einzelnen Regionen sollte nach dem ökonomischen Beitrag zur Gesamtstruktur bestimmt werden ein Minderheitenschutz ist einzubauen. Die ultraliberale Lösung des derzeitigen Modells ist nur durch ständiges Ausklammern aller wirklich brisanten Themen möglich.
Entscheidungen des Vorstands müssen für die Regionen verbindlich sein. Das bedeutet eine Beschneidung des föderalen Prinzips, erscheint aber als überlebensnotwendiger Preis, den die Ärzteschaft für eine effektive Interessenvertretung zahlen muss. Strukturell sind sowohl Kassenärztliche Bundesvereinigung als auch Bundesärztekammer aufgrund der Dominanz der Regionalfürsten tönerne Riesen, die schon bei kleineren Kampfhandlungen in sich zusammenfallen. Nur mit einer solchen Selbstreform lässt sich ein ausreichendes Maß an Einheitlichkeit erreichen.
Dennoch bleiben die Ärztekammern in ihrer Idee unverzichtbar gerade wegen ihrer alle Ärzte zusammenfassenden Funktion. Hier ist der Ansatz zu einer wirklichen allgemeinpolitischen Vertretungsmacht zu sehen leider von den Ärztekammern aus dem Selbstverständnis heraus, sie seien nur berufspolitisch zu definieren, oft nicht genutzt. Folgende Funktionen erscheinen als wesentlich:
Die künftigen Aufgaben der Kassenärztlichen Vereinigungen sind von der politischen Entwicklung und vom Selbstverständnis der Ärzteschaft abhängig. Setzt sich die derzeitige Entwicklung fort, bleibt den Kassenärztlichen Vereinigungen die Funktion der Resteverwertung und der Abwicklung des bisherigen Systems. Damit kann bei den Ärzten kein Staat mehr gemacht werden. Diese erleben die KV zunehmend als Zwangsapparat, der Mangel verwalten darf. Mit dem Verlust an wirtschaftlicher Basis ist ein politischer Funktionsverlust verbunden.
Vor diesem Hintergrund erscheint es langfristig sinnvoll, die Aufgaben von Kammern und KVen zusammenzuführen. Die Frage der öffentlich-rechtlichen Funktion ist nachhaltig infrage zu stellen. Dieser rechtliche Zwitter ist überlebt und führt wahrscheinlich nicht zu einer substanziellen Verbesserung der Lage der Ärzteschaft, sondern eher zu deren Fesselung. Von den genannten unverzichtbaren Funktionen einer Kammer stünde dann die Berufsgerichtsbarkeit zur Disposition. Alle anderen Funktionen könnten auch von einer gewählten privatrechtlichen Interessenvertretung übernommen werden.
Eine solche zentrale Struktur auf freiwilliger Basis könnte politische Interessenvertretung im weiteren Sinne ermöglichen und so auch viele Aufgaben derjenigen Berufsverbände übernehmen, die reinen Lobbyismus verkörpern. Ausgangspunkt dieses Konzeptes ist der ideelle Gesamtarzt. Eine Differenzierung in verschiedene gegensätzliche ärztliche Fraktionen, die sich bekämpfen, ist abzulehnen. Politik und Krankenkassen werden eine solche einheitlich geführte und zentralisierte Struktur nicht ohne Not zulassen. Für sie ist eine zersplitterte und in Diadochenkämpfen sich erschöpfende Ärzteschaft, die permanent mit dem Verteilen von Monopoly-Spielgeld beschäftigt ist, eine verlässliche Garantie für den eigenen Vorteil. Insofern wäre erst einmal weitere Bewusstseinsarbeit bei den Ärzten und eventuell eine Urabstimmung über eine solche Veränderung erforderlich. Dies erscheint aber erst realisierbar, wenn sich die Lage der Ärzte noch weiter verschlechtert. Noch überwiegt die Angst vor Veränderung als mächtiger Blockade-Mechanismus im Denken und Tun der Ärzte.
Der Aufbau von Parallelorganisationen zum öffentlich-rechtlichen System der Ärztekammern und Kassenärztlichen Vereinigungen wird zu einer strategischen Zukunftsaufgabe der Ärzte in Deutschland werden. Hier ist eine Struktur, die keine öffentlich-rechtliche Gestalt hat, eindeutig zu favorisieren entkommt sie doch nur so den Fesseln des Sozialrechts. Gelingt dieses Projekt nicht, so wird am Ende der Verlust der Freiberuflichkeit stehen und die überwältigende Struktur einer staatlichen zentralen Gesundheitsverwaltung. Das größte Problem wird die Ausbalancierung von Basisdemokratie und zentraler stringenter Führung sein einmal aufgrund seines historischen Neuigkeitscharakters für die Ärzteschaft, zum anderen wegen der möglichen Gefährdung des Freiheitsgedankens.
So viel Basisdemokratie in den Grundstrukturen (Verbänden, Gesellschaften, Regionalverwaltungen der Kammern und KVen, Ärzteschaften) wie möglich, so viel Autoritarismus in der Führung wie nötig, dies ist die Formel.