Solidarität der Nehmenden

Die derzeitige deutsche Solidaritätsdebatte ist scheinheilig!

2003 +++ Uwe K. Preusker +++ Quelle: KMA 01/2003, 26

Auszüge:

Solidarität ist eines der Hauptschlagworte in der aktuellen Debatte über sinnvolle, erforderliche oder gar notwendige Reformen der Krankenversicherung. Und Solidarität ist ein Begriff, dessen Definitionsmacht sich vor allem die gegenwärtige Koalition fest angeeignet zu haben scheint! Solidarisch ist es nach dieser Diktion zum Beispiel, wenn Menschen, die bisher das Recht hatten, sich in einer privaten Krankenversicherung zu versichern, nun in die GKV gezwungen werden. Solidarisch sei dies deshalb, weil diese Menschen so zur Finanzierung der Gesundheitsleistungen in der GKV beitrügen, beziehungsweise in der verallgemeinernden Argumentation eben deshalb, weil nur der solidarisch ist, der in die GKV einzahlt.

Als unsolidarisch und unsozial werden in dieser Diktion dagegen alle Überlegungen diffamiert, die Versicherten der GKV ihrerseits zur Einhaltung der Regeln der Solidarität zu bewegen, etwa über Selbstbehalte – als wenn es moral hazard in Deutschland nicht gäbe!

Interessanterweise wird dies in europäischen Sozialstaaten völlig anders gesehen!

Beispiel Schweden: Kein Arztbesuch ohne Selbstbeteiligung heißt der Grundsatz, der erst endet, wenn individuell die als Belastungsgrenzen festgesetzten Jahresbeträge überschritten sind!

Beispiel Finnland: Die Obergrenze, die der Wohlfahrtsstaat Finnland seinen Bürgern – wohlgemerkt: nur für den Arzneimittel-Bereich! – gesetzt hat, ist erst bei Ausgaben von 601,15 Euro innerhalb eines Jahres erreicht!

Insgesamt bezahlen die sparsamen Finnen, die nur knappe sieben Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes für das Gesundheitswesen ausgeben, deutlich über 20 Prozent dieser Kosten unmittelbar aus der eigenen Tasche – im direkten Zusammenhang mit der Inanspruchnahme von Leistungen!

Beispiel Norwegen: Zahnbehandlung und Zahnersatz bis zum 18. Lebensjahr sind frei, danach jedoch muss jeder alles selbst zahlen – mit deutlich positiven Effekten für die Zahngesundheit, ähnlich übrigens wie in der Schweiz.

Solidarität hat grundsätzlich – und diese Auffassung setzen nordeuropäische Gesundheitspolitiker in konkretes Handeln um – zwei Seiten – einmal die des Solidarität Gebenden, zum anderen die des Solidarität Benötigenden und/oder in Anspruch Nehmenden! Zu diesen Solidaritätspflichten der Nehmenden gehört vor allem anderen, dass sie Leistungen nur dann in Anspruch nehmen, wenn dies unumgänglich ist!

Die derzeitige deutsche Solidaritätsdebatte ist zum Teil einäugig, zum Teil scheinheilig! Es geht nicht um wirkliche Solidarität der Gebenden und der Nehmenden, es geht um Wählerstimmen – und die sind derzeit aus Sicht vieler Politiker offensichtlich vor allem auf der Seilte der Nehmenden zu finden!

Hören wir endlich auf damit, die Bürger dieses Landes zu entmündigen und für nicht einsichtsfähig im Hinblick auf notwendige Reformen zu erklären! Hören wir auf damit, Argumenten mit Denkverboten zu begegnen. Statt Tabuisierung und Besitzstandswahrung brauchen wir dringend eine offene Debatte über alle Aspekte der Solidarität in unseren Sozialsystemen, ja in der gesamten Gesellschaft.