Zur Reform der sozialen Sicherungssysteme
2003 +++ Thomas Gerst +++ Quelle: Deutsches Ärzteblatt 4. April 2003 S. A887
Auszüge:
Die Politik, nicht die Verfassung entscheidet über Maßnahmen, die
Gemeinwohlbelange sichern.
Der Handlungsspielraum des Gesetzgebers bei der Gestaltung
der sozialrechtlichen Beziehung ist, an der Verfassung gemessen, sehr weit,
an der gesellschaftlichen Wirklichkeit gemessen, dagegen sehr eng. So lautete
das Fazit der Ausführungen von Renate Jaeger, Richterin am Bundesverfassungsgericht
in Karlsruhe, beim 1. Kölner Sozialrechtstag, der sich mit der Reform der
sozialen Sicherungssysteme auseinander setzte.
Die Verfassung gebe keine bestimmte Sozialordnung vor, betonte
Jaeger. Auch bei der Gesundheitsversorgung innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung
(GKV) entscheidet die Politik, nicht die Verfassung über Maßnahmen, die die
Gemeinwohlbelange sichern. Punktuelle Benachteiligungen seien hinzunehmen,
wenn eine Regelung insgesamt dem sozialen Ausgleich dient; Beschränkungen
der Berufsfreiheit könnten begründet sein, wenn sie für die soziale Sicherheit
als einem zentralen Gemeinwohlbelang erforderlich sind.
Das Bundesverfassungsgericht habe 1987 in einem Urteilsspruch
den solidarischen Charakter, den Gedanken des sozialen Ausgleichs unter den
Versicherten innerhalb der GKV unterstrichen. Nach Einschätzung von Jaeger
hat in dem relativ kurzen Zeitraum bis heute ein Wertewandel hin zur Ökonomisierung
stattgefunden. Das Bundesverfassungsgericht sei, in dem es für Kontinuität
in der Sozialversicherung steht, offenbar die letzte Institution, die dem Gedanken der Solidarität noch anhängt.
Allerdings trage der sozialpflichtig Versicherte nicht nur
die Chancen, sondern auch die Risiken des Systems. Inzwischen sei es notwendig
geworden, Anpassungen, d.h. Einschränkungen von Leistungen vorzunehmen. Dies
führe zu einem kaum zu lösenden Spannungsverhältnis: Der Staat zwinge den
Bürger in eine Pflichtversicherung und binde damit Beiträge, die anderenfalls
für die private Vorsorge aufgewandt würden. Inwieweit darf der Gesetzgeber
dann Leistungen einschränken und den Anspruch auf allumfassende Versorgung
verweigert?