Die GKV-Struktur ist ungerecht und desolat!

Vorsitzende Richterin am Landessozialgericht in Celle für Kostenerstattung

2003 +++ Ruth Schimmelpfeng-Schütte +++ Quelle: Arzt und Wirtschaft 5/2003 S. 8

Die Ergebnisse der Rürup-Kommission sind enttäuschend. Das kranke Gesundheitssystem ist nicht durch Herausnahme von Leistungen, neue Beitragszahler oder eine verfassungsrechtlich bedenkliche Praxisgebühr zu heilen. Die Struktur der gesetzlichen Krankenversicherung ist es, die neu überdacht werden muss! Hiervon ist Berlin noch weit entfernt.

Zunächst muss das Sachleistungsprinzip auf den Prüfstand. Denn es dient heute weniger dem Schutz der Versicherten als der Aufrechterhaltung althergebrachten Einrichtungen und Zustände. Es sollte aber vom Kostenerstattungsprinzip abgelöst werden. So kommt Transparenz in das Dunkel der GKV. Der Versicherte hätte erstmals die Möglichkeit zu sehen, welche Kosten seine Behandlung er verursacht. Viele Betrügereien wären damit von vornherein unmöglich. Auch die Krankenkassen könnten sehen, welche Kosten im konkreten Behandlungsfall anfallen. Das alles würde erreicht ohne die Chipkarte, die Daten des Patienten offenbart und ihn zum "gläsernen Patienten" macht.

Das Kostenerstattungsprinzip stärkt die Eigenverantwortung der Versicherten. Es müssen daher Patientenberatungsstellen geschaffen werden, die den Versicherten zur Seite stehen und helfen, Arztrechnungen zu verstehen, die richtige Klinik zu finden, sich im Dschungel des Gesundheitswesens zurecht zu finden. Weiteres Argument für die Kostenerstattung ist Europa. Nur die Kostenerstattung garantiert die europäische Dienstleistungs- und Warenverkehrsfreiheit auch in der GKV. Europa wird es mit sich bringen, dass Deutschland das Sachleistungsprinzip aufgeben muss.

Langfristig ist die Einführung einer Grundversicherung mit privaten Zusatzversicherungen (oder: Basisversorgung und Wahlleistungen oder Vertrags- und Wahlleistungen) erforderlich. Denn bei dem enormen medizinischen Fortschritt wird in naher Zukunft nicht jeder Burger jede mögliche medizinische Maßnahme erhalten können.

Eine der größten Herausforderungen unserer Gesellschaft wird die Antwort auf die Frage sein, was zur Grundversorgung gehört. Was geschieht mit einem Patienten, der zwar keine Zusatzversicherung, aber Behandlungsbedarf hat? Ist es mit den Grundgesetz vereinbar, den Patienten nicht mit allen zur Verfügung stehenden medizinischen Möglichkeiten zu behandeln? Was geschieht mit ihm im Krankheitsfall? Tritt die Sozialhilfe ein? Falls ja, ist das finanzielle Problem lediglich verschoben. Statt der Solidargemeinschaft der GKV würde nun die Solidargemeinschaft aller Berufe für ihn eintreten. Verweist die Gesellschaft den mittellosen Patienten auf seiner Eigenverantwortung, bliebe er unversorgt. Kann das wirklich sein? Wäre es mit dem Grundgesetz tatsächlich vereinbar, Bürger unversorgt zu lassen? Höchstes Gut in unserem Staat ist die Würde des Menschen. Was macht die Würde des Menschen aus? Wo beginnt die Einstandspflicht des Staates? Von einem Reformauftrag, an dem Sachverständige monatelang auf Kosten der Steuerzahler arbeiten, hätte der Bürger mit Fug und Recht eine Diskussion dieser höchst brisanten Fragen erwarten können.

Es ist Zeit, den ungerechten und desolaten Zustand der GKV in Angriff zu nehmen. Die Zeit ist längst reif für eine Grundsatzdiskussion über eine neue GKV- Struktur. Bei dieser Diskussion muss der soziale Auftrag der Medizin im Mittelpunkt stehen.