Rechtsprechung des EuGH

Auswirkungen auf die EU-Mitgliedstaaten - insbesondere Deutschland

2003 +++ Meinhard Heinze +++ Quelle: gpk Sondernummer 1/2003, S.15

Auszüge:

Die Freizügigkeitsrechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes

Es kann überhaupt kein Zweifel daran bestehen, dass europaweit in allen Mitgliedstaaten der EU das Leistungserbringungsverhältnis als wirtschaftliche Betätigung im Sinne des EU-Vertrages zu qualifizieren ist, weil eben dieses Leistungserbringungsverhältnis - unabhängig von der zumeist öffentlich-rechtlichen Ausgestaltung des Versicherungsverhältnisses - schlicht dem Privatrecht unterliegt.

Dabei spielt es überhaupt keine Rolle, ob das jeweilige System ein Versicherungssystem oder ein staatliches Gesundheitssystem ist, ob das jeweilige System dem Sachleistungsprinzip oder dem Kostenerstattungsprinzip folgt. Denn jedem Fall ist das Rechtsverhältnis zwischen dem Leistungserbringer und dem Versicherer und dem Versicherten ein Rechtsverhältnis des Privatrechts.

Darüber hinaus - und dies ist besonders bedeutsam - hat der Europäische Gerichtshof klargestellt, dass auch die stationären Krankenhausdienstleistungen uneingeschränkt den Grundfreiheiten des europäischen Rechtes unterliegen. Zugleich hat er eine wichtige Klarstellung nachgeholt, dass nämlich zwischen Krankenversicherungssystemen, die dem Kostenerstattungsprinzip unterliegen und solchen, die das Sachleistungsprinzip vertreten, kein Unterschied hinsichtlich der Geltung der gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten besteht.

Wettbewerbsrecht

Diese Ansicht übersieht jedoch, dass der Europäische Gerichtshof stets einen "funktionalen Unternehmensbegriff" vertreten hat, der auch öffentlich-rechtliche Einrichtungen als "Unternehmen" erfasst, wenn sie wirtschaftliche Tätigkeiten ausüben.

Bekanntlich hat der Gerichtshof in der Rechtssache "Höfner und Elsner" die Tätigkeit der Deutschen "Bundesanstalt für Arbeit " im Bereich der Vermittlung von Führungskräften der Wirtschaft als "unternehmerische Tätigkeit" eingestuft.

Auswirkungen auf die Struktur der Gesundheitssysteme in Europa

Fasst man die dargestellten Aspekte des europäischen Rechts und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes zum gegenwärtigen Stand zusammen, so ergibt sich in der Tat, dass der gegenwärtige Stand des europäischen Rechts den Wettbewerb der nationalen Gesundheitssysteme erzwingt.

Hieraus erwachsen zwar Risiken, aber auch vielfältige Chancen. Zweifellos wird sich nicht jeder Anbieter gleichermaßen am Markt behaupten können. Zweck der Gesundheitspolitik darf jedoch nicht die Wahrung der Gesundheitssysteme als Gesamtapparat sein, sondern die Gewährleistung einer hochwertigen Versorgung der Bevölkerung.

Viele Gesundheitssysteme in Europa haben sich nach der bisherigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zumindest teilweise als nicht europarechtskonform erwiesen.

Die nationalen Gesetzgeber sind daher aufgerufen, die Konsequenzen aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu ziehen und die eigenen Leistungserbringer von nationalen Fesseln zu befreien.

Durchaus real ist der Beispielsfall, dass ein Zahnarzt in Lindau wegen Erreichen der Altersgrenze von 68 Jahren aus der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung ausscheidet und sich demzufolge in Bregenz als Zahnarzt niederlässt, ausgerechnet an der Haltestelle, wo der Bus aus Lindau nach einer Fahrtdauer von maximal 15 Minuten hält. Der Zahnarzt behandelt nun die deutschen Patienten aus Lindau in Bregenz weiter, so wie er sie zuvor in Lindau behandelt hat. Die Deutschen Krankenversicherungsträger sind aus europarechtlichen Gründen gezwungen, diesem aus dem deutschen Krankenversicherungsrechtssystem ausgeschiedenen Zahnarzt die Behandlungskosten der deutschen Patienten weiter zu erstatten.

Noch problematischer ist die Fallgestaltung, wenn die deutsche Spezialklinik, die bisher als Privatkrankenhaus keine Zulassung der gesetzlichen Krankenversicherung besessen hat, zwar europaweit Patienten behandeln kann, natürlich mit entsprechender Kostenerstattungspflicht seitens der Nationalkrankenversicherungsträger, nicht aber deutsche Patienten, obwohl die Behandlungsmethoden ansonsten in Deutschland nicht verfügbar sind.

Marktöffnung gewollt

Marktöffnung ist gemeinschaftsrechtlich gewollt, die Unterbindung der Marktöffnung ist nicht durch ein außerökonomisches Allgemeininteresse - Verbraucherschutz, Gesundheitsschutz oder kulturelles Anliegen - legitimiert.

Deshalb ergibt sich abschließend als Antwort auf die Frage nach den Konsequenzen des Europäischen Rechts auf die Strukturen im Gesundheitswesen, dass im Rahmen der nächsten 10 bis 15 Jahre eine entscheidende Umgestaltung des gesamten Europäischen Gesundheitswesens erfolgen wird. Nach den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs in den Sachen "Decker" und "Kohll" sowie in der Rechtssache "der Geraets-Smits und Peerbooms" besteht kein Zweifel daran, dass das europäische Recht den Wettbewerb der nationalen Gesundheitssysteme schlicht erzwingen wird. Sei es über die Dienstleistungs- und Warenverkehrsfreiheit, sei es mittels des europäischen Wettbewerbsrechts: Das europäische Recht wird die bestehende Abschottung der nationalen Gesundheitssysteme endgültig aufbrechen.

Länder, deren Gesundheitssysteme sich durch staatliche Reglementierung, Budgetierung und Beschränkung der Zulassung auszeichnen, werden einen weitreichenden Umbau ihrer nationalen Gesundheitssysteme durchführen müssen. Dies wird sicherlich nicht schlagartig geschehen, sondern bedarf - nicht zuletzt im Interesse der Versicherten - einer vorsichtigen Entwicklung und eines langen Atem. Dann allerdings wird sich in der Tat ein begrüßenswerter Wettbewerb der nationalen Gesundheitssysteme ergeben, ein Wettbewerb, der darauf angelegt ist, die jeweils bessere nationale Lösung zum Durchbruch zu bringen.

Darüber hinaus lässt sich nicht verkennen, dass das europäische Recht eine weitgehende Liberalisierung des Gesundheitswesens und des Gesundheitsmarktes bewirken wird, auf dass sich alle Akteure schon heute vorsorglich einstellen sollten, wenn sie eine hinreichende rechtliche Klugheit besetzen. Auch ist zu beachten, dass durch das Abstellen des Europäischen Gerichtshofes in den Entscheidungen Geraets-Smits und Peerboom auf den internationalen medizinischen Standard die jeweilige nationale Idylle des Gesundheitswesens erheblich und empfindlich aufgebrochen wird.

Die Versicherten brauchen sich nun nicht mehr auf die mehr oder weniger hinreichende Versorgung im nationalen Bereich zu verlassen, sondern sie können innerhalb des Europäischen Binnenmarktes frei den jeweiligen aktuellen Standard der medizinischen Erkenntnisse und der medizinischen Kunst wählen. Damit wird aber das Problem der Versicherung von Grund- und Wahlleistungen erneut aktuell, auch wenn man diese Trennung aus vordergründigen politischen Gründen semantisch anderes betitelt. Denn letztlich zwingt die europarechtliche Rechtsprechung dazu, auch im nationalen Rahmen neu zu definieren, was Angelegenheit der Solidargemeinschaft der Versicherten ist und was andererseits durch private Initiative, durch private Versicherungsverträge abzudeckendes zusätzliches Risiko ist.

Die Umgestaltung des Gesundheitswesens im Sinne eines liberalen Wirtschafts- und Wettbewerbssystems ist daher der einzige zukunftsträchtiger Weg.

Freiheitliche Strukturelemente im Gesundheitswesen

Insgesamt ist aber nochmals darauf hinzuweisen, dass das Europäische Recht und insbesondere die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes im Bereich der Sozialversicherung einen erstaunlichen Zugewinn an freiheitlicher, souveräner Rechtsgestaltung der einzelnen Rechtssubjekte bewirkt haben. Es ist schon sehr erstaunlich, wenn man die Voreingenommenheit weiter Teile der Bevölkerung gegen Europa, den Zentrismus in Brüssel, in der allgemeinen Medienkultur beobachtet. Denn die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes hat demgegenüber gerade diametral entgegengesetzt deutlich gemacht, dass Europa keine dirigistischen, verstaatlichten Elemente im Rahmen des Gesundheitswesens vermittelt, sondern demgegenüber überaus freiheitliche Strukturelemente fordert.

Ganz im Sinne der Unionsbürgerschaft wird auch und gerade ein Binnenmarkt des Krankenversicherungsrechtes und ein gemeinsamer Binnenmarkt des Gesundheitswesens entstehen. Gerade weil dies bereits heute absehbar ist, sind alle Akteure aufgerufen, sich bereits heute Gedanken zu machen, um ihre Stellung in ein zukunftsträchtiges System des Europäischen Gemeinschaftsrechtes einzubringen und gemeinsam ein freiheitliches Europa mitzugestalten.

Professur Dr. jur. Meinhard Heinze, Direktor des Instituts für Arbeitsrecht und Recht der sozialen Sicherheit der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bonn. Mitglied im Zentrum für Europäisches Wirtschaftsrecht.