Die Erweiterung der Europäischen Union

Auswirkungen auf die Gesundheit und die Gesundheitssysteme

2003 +++ Hans Stein +++ Quelle: Gesellschaftspolitische Kommentare Nr. 7, 2003, 3

Auszüge:

Vom 1. Mai 2004 an wird alles anders. Die Europäische Union (EU) wird nicht mehr das sein, was sie heute ist.

10 neue Mitgliedstaaten – die Tschechische Republik, Estland, Zypern, Litauen., Lettland, Malta, Polen, Slowenien, die Slowakei und Ungarn, Staaten von unterschiedlicher Größe und Wirtschaftskraft, mit unterschiedlichen Gesundheitssystemen und -problemen – werden volle und gleichberechtigte Mitglieder unserer Europäischen Union sein, mit allen Rechten und Pflichten.

Aus 15 Mitgliedstaaten werden 25, die Zahl der Amtssprachen steigt von 11 auf 20 und die gesamte Bevölkerungszahl wächst von 375 Mio. auf etwas über 480 Mio.

Es ist notwendig, daran zu denken, dass zu den bestehenden unterschiedlichsten Gesundheitssystemen 10, bald 13 neue hinzukommen, von denen den meisten gemeinsam ist, dass sie einen Reformprozess durchlaufen, der vom zentral gelenkten staatlichen Gesundheitssystem hin zu einem dezentralen Versicherungssystem weitgehend nach deutschem Vorbild führen soll, wobei die jeweiligen Organisations- und Finanzierungsformen äußerst unterschiedlich sind.

Dieses wachsende Interesse und das damit verbundene Problembewusstsein geben Anlass zur Hoffnung, dass man bereit ist, sich den Herausforderungen zu stellen, sie zumindest kennen zu lernen. Dass dabei gegenwärtig in erster Linie Gefahren und Risiken gesehen, die Vorteile aber nur wenig beachtet werden, ist zwar bedauerlich, entspricht aber der allgemeinen Haltung, Europa zwar theoretisch zu wollen, die Auswirkungen aber vorwiegend negativ zu beurteilen.

Gesundheit und die Beitrittsverhandlungen

Die „alten“ Mitgliedstaaten haben Gesundheit als europäisches Thema zunächst völlig vernachlässigt, dann bekämpft und finden sich heute langsam, aber ziemlich unwillig damit ab.

Wichtiger als der „Public-Health-Acquis“ waren andere Politikbereiche, die allerdings erhebliche Auswirkung auf die Gesundheit haben. Dazu gehörten die Rechtsetzung im Binnenmarkt, also Arzneimittel und Medikalprodukte, die Freizügigkeit für Gesundheitsberufe und die Anerkennung von Ausbildungsabschlüssen, die Umweltpolitik mit den Regelungen zur Wasser- und Trinkwasserqualität, aber auch die Sozial- und Beschäftigungspolitik.

Der Beitritt wird auch Auswirkungen auf die alten Mitgliedstaaten haben – z.B. steigende Patientenmobilität.

Gesundheitszustand, Gesundheitsgefahren und Gesundheitsfaktoren

Es wird in den östlichen Beitrittsländern viel mehr geraucht, der Alkoholkonsum ist viel höher, die Ernährungsgewohnheiten sind schlecht und es wird wenig Sport getrieben.

Es wäre eine gesundheitspolitisch sehr positive Auswirkung des Beitritts, wenn auch in den alten Mitgliedstaaten, insbesondere auch in Deutschland, der Stellenwert der Prävention im Verhältnis zur kurativen Versorgung endlich steigen und ausreichendes politisches Gewicht erhalten würde.

Gesundheitssysteme und Gesundheitskosten

Wichtig ist zunächst nur, dass das jeweilige Gesundheitssystem „EU-kompatibel“ ist, d. h. die sich aus anderen EU-Vertragsbestimmungen ergebenden nationalen Verpflichtungen – z. B. Zulassung von Arzneimitteln, Arbeitszeiten für Krankenhausärzte, Patientenmobilität – müssen von dem jeweiligen System erfüllt werden können.

Zum anderen sind die Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre überall in Angriff genommenen Strukturreformen der Gesundheitssysteme heute weitgehend abgeschlossen. Ihr Ziel war nicht die EU-Anpassung, sondern die Abkehr vom bisherigen kommunistischen, staatlich gelenkten Zentralsystem und die Hinwendung zu einem dezentralisierten, nicht-staatlichen Sozial-Versicherungssystem. Dieses Ziel wurde überwiegend erreicht, zumal dies in einigen der Staaten durchaus der eigenen geschichtlichen Tradition entsprach.

Nicht oder nur teilweise erreicht wurden die Ziele, mit der Reform die Qualität, Effizienz und Effektivität westlichen Maßstäben anzupassen und die Finanzausstattung entscheidend zu steigern.

Diese Faktoren sind für die Entwicklung nach dem vollzogenen Beitritt von erheblicher Bedeutung. Dies gilt insbesondere für die Höhe der Gesundheitsausgaben. Die Gesundheitsausgaben gerade der osteuropäischen Beitrittsländer liegen ganz erheblich unter dem EU-Durchschnitt. In einer WHO-Untersuchung aus dem Jahr 2002 wird festgestellt, dass die jährlichen Pro-Kopf-Gesundheitsausgaben im EU-Durchschnitt bei knapp unter 2.000 Dollar lagen, die der Beitrittsländer aber nur 500 Dollar erreichten.

Die Finanzierung der Gesundheitsversorgungssysteme in den Beitrittsländern ist die „schwache Flanke“ der Erweiterung und erfordert eine gut durchdachte langfristige Gesundheitsreform-Strategie weit über das Jahr 2004 hinaus.

Die Auswirkungen des Binnenmarktes auf die Gesundheitsversorgung

Die EU-Erweiterung bedeutet auch, dass die Regeln und Gesetze des Binnenmarktes mit seinen 4 Freiheiten für Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital abgesehen von begrenzten Übergangsfristen in vollem Umfang auch für die Beitrittsländer gelten. Auch die bahnbrechenden Urteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), die in den alten Mitgliedstaaten für so viel Aufregung gesorgt haben, gelten auch in der und für die erweiterte Europäische Union.

Patienten aus den Beitrittsländern können im Rahmen der EuGH-Urteile im ambulanten und im stationären Bereich sowie der Verordnung 1408/71 eine Behandlung in einem anderen EU-Mitgliedstaat in Anspruch nehmen. Angesichts der gegenwärtigen Versorgungssituation – Versorgungsengpässe, Wartelisten – ist durchaus zu erwarten, dass dies im vermehrten Umfang geschieht. Die Höhe der Bezahlung richtet sich nach den im Herkunftsland zu zahlenden Betrag, der von diesem auch zu zahlen ist. Eine Folge davon ist eine Steigerung der Gesundheitsausgaben dieses Landes. Diese Mittel kommen aber nicht dem eigenen Gesundheitssystem zugute, was zu einer erheblichen finanziellen Belastung dieses Gesundheitssystems führen kann.

Insgesamt ist eine steigende Patientenmobilität zu erwarten, im begrenzten Umfang sogar in beide Richtungen.

Der freie Personenverkehr gilt indessen auch für die Gesundheitsberufe, Ärzte, Zahnärzte und Krankenpflegepersonal.

Der ganz allgemein befürchtete „Brain-Drain“ dürfte die bedrohlichste Auswirkung der Erweiterung werden.

Solidarität ist auch ein europäisches Gebot und gilt nicht nur für das eigene Land und für das eigenen Gesundheitswesen.

Die Chance

Wesentliches Ziel der Erweiterung insgesamt ist es, in den Beitrittsländern mehr politische Stabilität und wirtschaftlichen Wohlstand zu erreichen. Sobald diese ökonomischen Fortschritte erzielt werden, müssen sie auch zur Verbesserung der gesundheitlichen Infrastruktur genutzt werden. Die EU allein wird schon mangels Zuständigkeit die Verbesserung des Gesundheitszustands und des Gesundheitssystems nicht erreichen können, aber sie kann durch ihre Hilfen beim Aufbau der notwendigen Kapazitäten im staatlichen und nichtstaatlichen Bereich einen wesentlichen Beitrag dazu leisten.

Der Prager Schriftsteller Franz Kafka hat vor vielen Jahren ohne an Europa zu denken den Satz geschrieben: „Wege entstehen indem man sie geht.“ Diese Aussage gilt für Europa, für die Erweiterung und für die Gesundheitspolitik in der erweiterten Europäischen Union.