Auszüge:
Diagnose des gesetzlichen Status quo
Auf einen ersten Blick scheint der Generationenvertrag GKV eine Leistungsgewährung an die Kranken, finanziert durch die überwiegend einkommensabhängigen Beiträge der Gesunden, und damit eine (ex post) Umverteilung von den gesunden an die kranken Teile der Bevölkerung zu sein. Warum die Beiträge einkommens- und nicht risikoabhängig erhoben werden, ist ökonomisch nicht begründbar, wird im Allgemeinen jedoch als Solidarprinzip bezeichnet, indem die Reichen für die gleiche Leistung mehr zahlen als die Armen.
Daraus ergibt sich die sogenannte Nachhaltigkeitslücke, die im Prinzip ausdrückt, ob die Gesamtheit aller Generationen mehr Leistungen erhält, als sie selbst an Beiträgen über die restliche Lebenszeit zahlt oder vice versa. Genau genommen handelt es sich dabei also um die implizite und statistisch nicht dokumentierte Verschuldung der GKV.
Eine (positive) Nachhaltigkeitslücke impliziert, dass die heute lebenden Jahrgänge zusammengenommen eine Last vor sich herschieben, die im Wesentlichen durch ihre Kinder abgegolten werden muss. Zur Aufrechterhaltung des gegenwärtigen Niveaus in der GKV müsste dann ein höherer Preis in Form steigender Beitragssätze bezahlt werden.
Szenario ohne Kostendruck
Die Generationenkonten der einzelnen Kohorten weisen nur die 14- bis 37jährigen als wirkliche Nettobeitragszahler aus, wohingegen alle anderen Jahrgänge, ob jünger oder älter, im Erwartungswert Nettotransferempfänger der GKV sind.
Summiert man die mit der Jahrgangsstärke gewogenen Nettobeitragszahlungen aller heute und zukünftig lebenden Generationen, so ergibt sich eine Nachhaltigkeitslücke in Höhe von 65,3 Prozent des BIP. Dies entspricht 1,3 Billionen Euro oder anders ausgedrückt, einer (fiktiven) Mehrbelastung zukünftiger Generationen in Höhe von 27.100 Euro pro Kopf.
Kostendruckszenario
Ein Blick auf Abbildung 3 lässt die erschreckenden Auswirkungen des Kostendrucks erkennen: Tatsächlich sind dann nämlich alle lebenden Generationen Nettoleistungsempfänger der GKV, so dass es in keinem Jahrgang ein Durchschnittsindividuum gibt, welches auch nur annähernd den Barwert der voraussichtlichen Leistungen durch Beiträge bezahlt. Entsprechend verwundert es nicht, dass sich im Kostendruckszenario eine Nachhaltigkeitslücke in Höhe von 203,8 Prozent des BIP (4,1 Billionen Euro) ergibt. Für den Fall, dass wiederum nur die zukünftigen Generationen diese Nachhaltigkeitslücke schließen, beziffert sich deren Mehrbelastung auf 84.600 Euro pro Kopf. Von einem Generationenvertrag kann angesichts dieser Zahlen eigentlich nicht mehr gesprochen werden, vielmehr handelt es sich bei der GKV um ein allgemeines Bereicherungsabkommen zu Lasten zukünftiger Generationen.
Wird das realistischere Szenario mit Kostendruck betrachtet, so kommt es zu einer regelrechten Explosion der Beitragssätze. Bis zum Jahr 2040 würde der Beitragssatz um 11 Prozentpunkte auf 24,7 Prozent ansteigen und im Jahr 2055 sein Maximum mit 25,7 Prozent erreichen.
Angesichts der in diesem Abschnitt dargestellten Ergebnisse ist es mehr als fraglich, ob zukünftige Generationen quasi bedingungslos und ad infinitum bereit sind, das vermeintlich solidarische System der GKV unverändert weiterzuführen. Es erscheint eher wahrscheinlich, dass sie den sogenannten Generationenvertrag kündigen.
Die Freiburger Agenda
Diese sogenannte Freiburger Agenda wird mit empirisch aufgearbeiteten Generationenbilanzen untermauert und besteht konkret aus drei Komponenten:
1)
Die Ausgliederung von Zahnarzt- und Zahnersatzleistungen,
2)
ein absoluter Selbstbehalt für ambulante Leistungen und Medikamente und
3)
eine über wettbewerbs- und ordnungspolitische Regeln stattfindende Reduzierung des Kostendrucks im stationären Sektor.
Des Weiteren:
·
Einführung eines absoluten jährlichen Selbstbehalts
·
Vollständiger Übergang auf das Kostenerstattungsprinzip
Schlussbemerkungen und Ausblick
Offenkundig ist die gegenwärtige Fiskalpolitik nicht nachhaltig. Offenkundig ist auch, dass dies hauptsächlich an den Generationenverträgen der umlagefinanzierten Sozialversicherungssysteme liegt. Welches Ausmaß allerdings die Nachhaltigkeitslücken in diesen Systemen annehmen, wird selbst von pessimistischen Zeitgenossen hoffnungslos unterschätzt.
Realistischere Annahmen, die den medizinisch-technischen Fortschritt mit ins Kalkül einbeziehen, implizieren eine deutlich größere Nachhaltigkeitslücke von fast drei Bruttoninlandsprodukten.
Es wäre mehr als gewagt anzunehmen, dass zukünftige Beitragszahler bereit sein werden, etwa 30 Prozent Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge zu zahlen. Mit realistischen Annahmen hinsichtlich der Renten- und Arbeitslosenversicherung käme man unter diesen Umständen zu Sozialversicherungsabgaben in der Größenordnung von fast Zwei-Drittel des Einkommens. Mithin liegt es im Selbstinteresse der heutigen Erwerbstätigen, zukünftige Generationen nicht zur Kündigung der Generationenverträge zu zwingen. Damit ist eine umfassende Reform der Kranken- und Pflegeversicherung unausweichlich.
Mit Hilfe der Freiburger Agenda kann es im Gesundheitssystem gelingen, den Generationenvertrag partiell wiederherzustellen und einen großen Schritt in Richtung Nachhaltigkeit zu gehen. Die dazu notwendigen Reformschritte sind allerdings einschneidend, denn es wäre nötig, alle Zahnarzt- und Zahnersatzleistungen aus dem Leistungskatalog der GKV zu streichen, einen Selbstbehalt für ambulante Leistungen und Medikamente in Höhe von etwa 900 Euro und eine über wettbewerbs- und ordnungspolitische Regeln stattfindende Reduzierung dieses Kostendrucks im stationären Sektor zu implementieren.
Hinsichtlich der Pflegeversicherung sind die notwendigen Maßnahmen tendenziell noch drastischer. Die GPV kann nur bei extrem hohen Beitragssätzen nachhaltig finanziert werden. Dies ist zukünftigen Generationen nicht zuzumuten. Daher plädieren wir für ein Einfrieren der nominell fixierten Pflegeleistungen und damit für eine sukzessive Abschaffung der GPV. An die Stelle des Staates sollte eine private Versicherungspflicht mit rücklagengedeckten Tarifen treten. Die stärkere Kapitaldeckung kann die demographischen Lasten partiell auf die Generationen verteilen, die nicht nur das Problem selbst darstellen, sondern zugleich die Ursache des Problems sind. Die Pflegefälle der Jahre 2040 2060 werden nämlich die geburtenstarken Jahrgänge der 50er, 60er und 70er Jahre sein, die ihrerseits nicht für ausreichend viele Beitragszahler gesorgt haben. Alles in allem also keine frohe Botschaft, die von den Trägern der Politik zu verkünden wäre.