Mit dem EBM 2000plus auf dem Weg in den Ruin

Warum Frauenärzte in Richtung Ruin getrieben werden

2003 +++ Franz-Josef Müller +++ Quelle: facharzt.de, 15.09.2003

Auszüge:

Die im Entwurf angesetzten Honorare werden es den Ärzten nicht erlauben, einen „angemessenen“ Überschuss zu erzielen. Ob die Auswirkungen auf den Frauenarzt auch auf alle anderen Facharztgruppen übertragbar sind, habe ich nicht überprüft.

Zustand heute:
Laut den Veröffentlichungen des Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland (ZI) hat der durchschnittliche Frauenarzt einen Umsatz von 193.000 Euro aus vertragsärztlicher Tätigkeit. Sein Kostenanteil beträgt 57,9 Prozent, der resultierende Überschuss somit 81.000 Euro (Angaben für das Jahr 2000).

Zustand nach Einführung des EBM2000plus:
Nach den Regeln des neuen EBM werden dem Vertragsarzt pro Woche 53 Stunden Arbeitszeit für gesetzlich versicherte Patienten zugestanden und somit bezahlt. Mit dieser Zeit sind alle Leistungen, also Sprechstunden und Administration erfasst. Weiter- und Fortbildungszeiten sind nicht enthalten. Gemäß EBM-Entwurf soll ein Frauenarzt bei 53 Stunden pro Woche Arbeit einen, noch nicht spezifizierten, kalkulatorischen Arztlohn erzielen. Unter anderem ist die Höhe des kalkulatorischen Arztlohnes einer der offenen Streitpunkte zwischen Kassen und KBV. Die Kassen bieten 0,66 Euro pro Minute, die KBV fordert 0,88 Euro pro Minute. Eine endgültige Entscheidung über die Höhe des kalkulatorischen Arztlohnes soll im Dezember 2003 getroffen werden. Bei 0,66 Euro pro Minute ergäbe sich ein kalkulatorischer Arztlohn von 81.000 Euro pro Jahr, bei 0,88 Euro pro Minute wären es 108.000 Euro. In dieser Zeit erwirtschaftet ein Arzt gemäß EBM gleichzeitig zwischen ca. 60.000 Euro und 80.000 Euro Einnahmen als TL (Technische Leistung, also variable Kosten der Behandlung) plus zirka 20.000 Euro an Kostenpauschalen (Fixkosten pro Behandlungsfall). Insgesamt erreicht der Arzt damit einen Umsatz zwischen 161.000 Euro bei 0,66 Euro pro Minute und 208.000 Euro bei 0,88 Euro pro Minute. Alle diese Angaben sind Ergebnis einer Simulation mit den Daten des neuen EBM.

An dieser Stelle ist es notwendig, den Unterschied zwischen kalkulatorischem und tatsächlichem Unternehmerlohn zu erklären. Enthält eine Kalkulation auch nur kleine Fehler, werden sich diese Fehler als eine Abweichung zwischen kalkulatorischem und tatsächlich erzieltem Lohn bemerkbar machen. Kalkulationsfehler zu seinem Nachteil bedeuten für den Arzt eine Überschussminderung, und zwar genau in Höhe des Kalkulationsfehlers. Aus der Sicht eines einzelnen Arztes mag ein beliebiger Kalkulationsfehler systematischer Art zu einer Umsatzminderung von 10.000 Euro führen. Für die Krankenkassen summiert sich solch ein systematischer Fehler auf zirka 1,2 Milliarden Euro – und das Jahr für Jahr. Was sich bei den Ärzten als Verlust (Umsatzminderung) bemerkbar macht, stellt sich bei den Krankenkassen als Gewinn (Ausgabenreduzierung) dar, da sie Leistungen unter den tatsächlichen Erstellungskosten einkaufen.

Und genau einen solchen Kalkulationsfehler enthält der EBM2000plus. Dieser Kalkulationsfehler ist ganz leicht nachzuvollziehen. Da die Betriebskosten nach den Angaben des ZI im Durchschnitt 57,9 Prozent betragen, ergeben sich ausgehend von einem Umsatz von 161.000 (208.000) Euro die Betriebskosten in Höhe von 93.000 (120.000) Euro. Der Wert von 57,9 Prozent ist eine Eingangsgröße für die Kalkulation und keine Variable, die modellendogen bestimmt wird. Die Vernachlässigung dieses Zusammenhanges ist eine Ursache für die fehlerhafte Kalkulation. Der tatsächlich erzielbare Überschuss beträgt demnach 68.000 (88.000) Euro und nicht, wie durch den EBM suggeriert, 81.000 (108.000) Euro. Die angenommene Höhe des kalkulatorischen Unternehmerlohnes im EBM-Entwurf führt fälschlicherweise zu 13.000 (20.000) Euro höheren Überschüssen. Damit weicht der kalkulierte Überschuss um 19 (22) Prozent von der Realität ab – zu Lasten der von mir untersuchten Gruppe der Frauenärzte.

Die oben genannten Zahlen gelten allerdings ausschließlich für einen Frauenarzt, der bisher zirka 2.000 Scheine im Quartal hatte und zukünftig am zugelassenen Zeitlimit von 53 Stunden pro Woche arbeitet. Der typische Durchschnittsarzt (zirka 1450 Fälle) wird im neuen System nur noch zirka 130.000 (170.000) Euro Umsatz erzielen. Kann er seine Kosten von derzeit ca. 112.000 Euro nicht sofort und spürbar reduzieren, wird der durchschnittliche Frauenarzt nur noch einen Überschuss aus Vertragsarzttätigkeit von 18.000 (58.000) Euro erzielen.

Dieser Fehler in der betriebswirtschaftlichen Kalkulation hat gravierende Auswirkungen auf den Überschuss. Selbst im günstigen Falle kann ein Vertragsarzt damit nicht mehr auf das, nach Opportunitätsprinzip heranzuziehende, Gehalt eines Oberarztes kommen. Aber dies ist nicht der einzige Fehler, der in dem derzeitigen EBM-Entwurf enthalten ist. Zu den weiteren Fehlern gehören:

·  Die Kosten, die in Euro zu begleichen sind, werden – bar jeder sachlichen Begründung – in das Hilfskonstrukt „Punktzahl“ transformiert. Fällt nun der Punktwert, eine politische beeinflussbare Größe, unter 5,1 Cent (= 10 Pfennig), wird nicht nur der kalkulatorische Arztlohn reduziert, sondern die Kosten werden nur noch anteilsmäßig erstattet. Eine Minderung des Punktwertes bedeutet damit automatisch, dass die tatsächlich anfallenden Kosten über die Honorierung nicht mehr voll getragen würden. Der tatsächliche Arztlohn würde somit aus zwei verschiedenen Effekten reduziert:

a) es würde ein niedrigerer kalkulatorischer Arztlohn in die Kalkulation eingehen, und

b) die Kosten der Vertragsarztpraxis würden von den Kassen nicht voll übernommen werden, sodass die verbliebenen Kosten im Ergebnis zu einer zusätzlichen Reduzierung des tatsächlichen Arztlohnes führen würden. Damit wäre die ursprüngliche Kalkulation reine Makulatur geworden. An dieser Stelle könnten die weiter verwendeten Zahlen auch aus einer Kristallkugel stammen.

Dass die dem EBM-Entwurf zugrunde liegende Kalkulation auf Äquivalenten, also Punkten beziehungsweise Minuten, beruht, ist fatal. Die Punktbewertung von Leistungen ist auf die Forderung nach Kostenneutralität zurückzuführen. Diese bedingt eine Zielkalkulation, in der man eine Stellgröße benötigt, um die gewünschten Gesamtkosten punktgenau erreichen zu können. Dass eine Kalkulation so manipuliert wird, widerspricht allen Controllingansätzen, die ich kenne.

In einer EBM-Kalkulation müssen die Leistungen mit eindeutig nachvollziehbaren Preisen berücksichtigt sein. Fließen keine Preise in die Berechnung ein, mag es alles Mögliche sein – eine Kalkulation ist es jedenfalls nicht. Da das Problem der Mengensteuerung derzeit ebenfalls noch nicht gelöst ist, könnte das Gesamthonorar, also die Kostenneutralität, für die vertragsärztliche Versorgung nur über die Mengensteuerung erreicht werden. Je schlechter die Eingangsgrößen einer Kalkulation sind, umso weniger verwertbar ist das Kalkulationsergebnis. Im Allgemeinen ist man bestrebt, in einer Kalkulation die Realität so gut wie möglich abzubilden. Hier wird von diesem Verfahren vorsätzlich abgewichen.

·  Die ökonomischen Auswirkungen der so genannten Praxisgebühr, die de facto eine risikoorientierte Beitragserhöhung für die Versicherten ist. Diese Handlangertätigkeiten für die Krankenkassen konnten in der bisherigen Kalkulation nicht berücksichtigt werden, da sie zum Zeitpunkt der Kalkulationserstellung noch nicht bekannt waren. Die Praxisgebühr verschafft einer Praxis keinen Mehrwert, sie verzehrt dagegen sogar Ressourcen, kostet also Geld. Diese Kosten müssten jetzt in eine aktualisierte Kalkulation eingebracht werden. Wird die Kalkulation nicht überarbeitet, fällt der Überschuss in einer Frauenarztpraxis nochmals um mehrere Tausend Euro pro Jahr.

·  Die Anreizwirkungen durch die Praxisgebühr konnten in der Kalkulation des EBM-Entwurfes ebenfalls nicht berücksichtigt werden. In Zukunft werden viele Verdünnerscheine wegfallen, Hausärzte werden vielleicht verstärkt die Aufgaben der Frauenärzte wahrnehmen. Das geht speziell bei Frauenärzten sehr einfach, weil die Verordnung von Kontrazeptiva überwiegend auf Privatrezept erfolgt, also das eigene Medikamentenbudget nicht nur nicht geschmälert sondern sogar noch vergrößert wird. Aus ökonomischer Sicht ein eindeutiger Fehlanreiz, der zu einer Fehlallokation von Ressourcen führen wird.

·  Es gibt keinerlei automatische Verfahren im EBM-Entwurf, mit denen Veränderungen des allgemeinen Preisniveaus berücksichtigt werden. Ohne eine Anpassung an die Inflationsrate wird der Überschuss, bei ansonsten gleich bleibenden Randbedingungen, real reduziert – also verdient der Arzt von Jahr zu Jahr weniger. Und diese Verluste treten bereits ein, obwohl an den Stellschrauben zur Punktwertanpassung, das erledigte bisher der HVM, noch niemand gedreht hat. Ebenso sind die Effekte des „arztbezogenen Regelleistungsvolumens“ auf die Umsätze noch nicht berücksichtigt. Jede spätere Manipulation an der sowieso schon fehlerhaften Ausgangslage, wird für die betroffenen Ärzte zu einer weiteren Verschlechterung führen.

Bezüglich der ökonomischen Größen ist der Frauenarzt der „Durchschnitt“ aller Vertragsärzte. Die oben dargestellten Sachverhalte wurde zahlenmäßig verifiziert, allerdings nur für Frauenärzte. Wenn die Frauenärzte auch bezüglich ihrer ökonomischen Abbildung in die Kalkulationsschemata für den EBM-Entwurf typisch sind, so lässt sich das Ergebnis auch auf die anderen Facharztgruppen übertragen. Für die Gruppe der Anästhesisten hatte Dr. Mertens (Funktionär innerhalb seines Verbandes) bereits erhebliche Mängel am EBM-Entwurf festgestellt.

Der Bewertungsausschuss:

Der EBM2000plus wird und wurde nicht selbstherrlich von der KBV, unter Anhörung der Fachgruppenvertreter, auf den heutigen Stand gebracht: Das entscheidende Gremium ist der „Bewertungsausschuss“, eine Institution, in die beide Parteien, Kassen und KBV, paritätisch Mitglieder entsenden. Kommt der Bewertungsausschuss zu keinem Ergebnis, wird der „Erweiterte Bewertungsausschuss“ einberufen. Dabei wird der Bewertungsausschuss um zusätzliche Mitglieder beider Seiten plus eine unabhängiges Mitglied aufgestockt. Im vergangenen Jahr wurde, erstmalig in der Geschichte, der Erweiterte Bewertungsausschuss einberufen – Streitthema war der EBM2000plus. Obwohl der Erweiterte Bewertungsausschuss genau für solch strittige Fälle eine Entscheidung treffen soll, wurden ganz zentrale Entscheidungen nicht getroffen sondern auf das Jahresende vertagt.

Der einzelne Vertragsarzt kann im Übrigen nicht unmittelbar gegen den Bewertungsausschuss klagen. Darüber hinaus unterliegt der Bewertungsausschuss auch nicht unmittelbar der Staatsaufsicht. Auf der Bundesebene unterliegen sowohl das Bundesschiedsamt wie die Bundesausschüsse der Aufsicht des Bundesministeriums BMG (§ 89 Abs. 5, § 91 Abs. 4 SGB V). Eine vergleichbare Regelung ist für den Bewertungsausschuss nicht getroffen worden. Der Bewertungsausschuss ist ungeachtet seiner Verselbstständigung ein Vertragsorgan, durch das die Spitzenverbände der Kranken- und Ersatzkassen sowie die KBV einen Bewertungsmaßstab "vereinbaren" (BSG Urteil vom 11.9.2002, B 6 KA 34/01 R).

Aus mehreren Veröffentlichungen ist ersichtlich – zum Beispiel des BDA Bayern im Januar 2002 oder der KV Nord Württemberg im August 2000 –, dass die Brisanz des Themas an vielen Orten bekannt war. Mit dem derzeitigen Stand des EBM2000plus kann kein einziger Vertragsarzt auch nur annähernd zufrieden sein. Die Funktionäre der Ärzte sollten über die ökonomischen Auswirkungen einer Einführung des derzeitigen EBM-Entwurfes noch weit besser informiert sein, als ich dies hier dargestellt habe. Trotzdem sind öffentliche Reaktionen nicht zu beobachten.

Da die Vertreter der Ärzte in dem Bewertungsausschuss durch Diskretion keinen Verhandlungsvorteil gewinnen können, stellt sich die Frage: Warum informieren die KBV-Mitglieder des Bewertungsausschusses nicht über die zu erwartenden Auswirkungen bei Einführung des EBM2000plus? Oder warum informiert die KBV nicht? Oder die Facharztverbände? Oder die KVen? Und, da viele Funktionäre von KV und/oder KBV multiple Funktionärsposten, selbst bei unmittelbar miteinander konkurrierenden Organisationen oder geplanten Nachfolgeorganisationen, innehaben, könnten diese Organisationen (Medi, Medunion, Ärzteunion, Genossenschaften, Hartmannbund, Virchowbund, ....) als Veröffentlichungsplattform eingesetzt werden.

Franz-Josef Müller, Volkswirt

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Unbedingt vormerken: Der EBM ist Thema eines offiziellen Streitgespräches zwischen Müller und KBV-Geschäftsführer Dr. Andreas Köhler am 22. September 2003 im Leserforum von Facharzt.de.