Gesundheitsreform 2003 verfehlt ihre Wirkung auf die Nachhaltigkeit

Eine Nachhaltigkeitslücke von vier Billionen Euro bleibt

2003 +++ Stefan Fetzer, Bernd Raffelhüschen +++ Quelle: SZ - 27.08.2003

Auszüge:
 
Doch wie nachhaltig ist die angedachte Reform wirklich? Antwort kann ein Vergleich der so genannten Nachhaltigkeitslücke ohne die angedachte Reform mit derjenigen bei Umsetzung der Reform geben. Die Nachhaltigkeitslücke gibt dabei die Differenz aller künftigen Leistungen und aller künftigen Beiträge an, die von allen heute lebenden und allen späteren Generationen noch gezahlt beziehungsweise noch empfangen werden. Mit anderen Worten zeigt sie, wie groß die Rücklagenbildung hätte sein müssen, damit das heutige Leistungsniveau auch für die Zukunft finanzierbar bliebe. Ohne die Umsetzung der Reform, im Szenario des gesetzlichen Status quo, ergäbe sich eine Nachhaltigkeitslücke von 236 Prozent des Bruttoinlandsproduktes  (BIP), also fünf Billionen Euro.

Nachhaltigkeitslücke bleibt
Anders ausgedrückt, müsste die Gesamtheit aller deutschen Bürger zwei Jahre und vier Monate lang arbeiten und alles, was sie erwirtschaftet, der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) geben, damit auch zukünftige Generationen die gegenwärtigen Leistungen der GKV bei gleichen Beiträgen erhalten können. Angesichts einer so erschreckenden Zahl wird der akute Handlungsbedarf hinsichtlich einer nachhaltig wirkenden Reform mehr als deutlich.

Werden die geplanten 23,1 Milliarden Euro Einsparungen bei der Berechnung der Nachhaltigkeitslücke berücksichtigt, so sinkt diese im Szenario der Gesundheitsreform auf 154 Prozent des BIP. Wie es den Anschein hat, kann durch die angedachte Reform mehr als ein Drittel des Nachhaltigkeitsproblems beseitigt werden und demnach zu mehr als einem Drittel dem Ziel, der Einführung einer „nachhaltig wirksamen Reform zur Förderung von Qualität und Wirtschaftlichkeit“ entsprochen werden. Doch mit einem solchen voreiligen Schluss sollte man vorsichtig sein, denn wie so häufig trügt der erste Schein.

Bei genauerem Hinsehen fällt als erstes der Sonderbeitrag zur Finanzierung des Krankengeldes auf, der ab dem Jahr 2007 zu zahlen sein wird. Es handelt sich hierbei weniger um eine Entlastung der GKV, vielmehr findet eine Umfinanzierung der Beiträge von Arbeitgeber zu Arbeitnehmer statt. Dieser „Verschiebebahnhof“ mag hinsichtlich der (dringend erforderlichen) Senkung der Lohnnebenkosten ein echter Reformschritt sein, hat auf die Höhe der Nachhaltigkeitslücke aber keinen Einfluss. Wird bei der Berechnung auf diese „Scheinentlastung“ verzichtet, so senkt sich die Nachhaltigkeitslücke nicht von 236 auf 154, sondern nur noch auf 167 Prozent des BIP.

Zum Zweiten bestand das ursprüngliche Ziel darin, Vorschläge für die GKV-Ausgabenseite zu machen. Für die Finanzierungsseite sollte der Endbericht der Rürup-Kommission, der am Donnerstag vorgelegt werden soll, mit Vorschlägen zur Reformierung der GKV-Einnahmen abgewartet werden. Schaut man sich aber die Entlastungen durch die Reform genauer an, so sind neben fünf Milliarden Euro, die der Sonderbeitrag beisteuert, weitere 5,8 Milliarden Euro durch die höhere Tabaksteuer und den Beiträgen aus der Anrechnung weiterer Versorgungsbezüge von Rentnern einnahmeseitige Entlastungen. Von den ursprünglich geplanten 23,1 Milliarden Euro Entlastungen werden also nur 12,3 Milliarden auf der Ausgabenseite erzielt. Werden bei Berechnung der Nachhaltigkeitslücke nur die geplanten Ausgabensenkungen in Betracht gezogen, bringt dies die Senkung der Nachhaltigkeitslücke von 236 auf nur noch 184 Prozent des BIP.

Schließlich ist es mehr als fragwürdig, ob die Entlastungen auf der Ausgabeseite in der offiziell erwarteten Höhe auch tatsächlich eintreten. Während die Kosteneinsparungen für die Entlastungen durch die Ausgliederung des Zahnersatzes und die Ausgrenzung von anderen Leistungen sehr gut zu prognostizieren sind, muss die geschätzte Höhe der Einsparungen durch Zuzahlungen von 3,3 Milliarden Euro angezweifelt werden. Derartig geringe und zudem stark gedeckelte Zuzahlungen haben nach Expertenmeinung nur einen geringen Lenkungseffekt hin zu effizientem Arzt- und Patientenverhalten. Neben der Frage, ob die Schätzungen über die Höhe der Zuzahlungen richtig sind, fehlt in den Modellrechnungen ein zusätzlicher Bürokratie- und Verwaltungsaufwand, der bei Einführung von selbst geringen Zuzahlungen nicht unterschätzt werden darf. Wird bei der Nachhaltigkeitsanalyse angenommen, dass sich durch die neuen Zuzahlungen nur die Hälfte der geschätzten Einsparungen (1,65 Milliarden Euro) realisieren, so sinkt die ursprüngliche Nachhaltigkeitslücke von 236 auf nur noch 192 Prozent des BIP.

Von der ursprünglichen Entlastung von gut einem Drittel der Nachhaltigkeitslücke bleibt bei einer genauen Betrachtung also nur noch etwas mehr als ein Rückgang von einem Sechstel übrig. Die Reform verfehlt ihre beabsichtigte Wirkung auf die Nachhaltigkeit demnach zu knapp fünf Sechstel – kein besonders hoher Zielerreichungsgrad, sondern eher Ausdruck eines insgesamt unbefriedigenden Kompromisses.

Prof. Dr. Bernd Raffelhüschen leitet das Institut für Finanzwissenschaft und Volkswirtschaftslehre der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg im Breisgau;
Stefan Fetzer ist wissenschaftlicher Assistent an dem Institut.