Gesundheitsreform - aber welche?

Mehr Soziale Marktwirtschaft für Patienten und Ärzte wagen

2002 +++ Wilhelm Hankel +++ Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt/M

Thesen:

1. Deutschlands politische Parteien huldigen der Zwangsvorstellung, man könne das aus der Bismarck-Ära überkommene deutsche Gesundheitssystem retten – koste es, was es wolle. Es ist morsch und brüchig wie ein verfaulter Zahn – und dies aus drei zwingenden Gründen:

· Gesellschaftspolitisch ist es unverantwortlich, einer zahlenmässig schrumpfenden, aber hart arbeitenden jüngeren Generation, die Lasten von immer mehr (und immer früher in Rente gehenden!) Alten aufzuladen. Weder die „soziale“ Alters- noch die Gesundheitsversicherung rechnet sich für die junge Generation. Sie zahlt mehr ein als sie je herausbekommen kann und wird. Gleichwohl verbietet ihr die Politik, aus diesem System auszusteigen.

· Wirtschaftspolitisch ist es ein zweifacher Unsinn, die Einnahmen der „Gesetzlichen Krankenversicherung“ (GKV) an ein zudem noch schrumpfendes Teil-Segment der Lohneinkommen aus abhängiger Beschäftigung zu binden: bis zu derzeit rd. 3.375 Euro im Monat und Einzelfall. Erstens macht man mit dieser (oder jeder anderen) „Pflichtgrenze“ die Einnahmen der GKV von Konjunktur und Arbeitsmarkt abhängig. Zweitens begrenzt man damit die Einnahmebasis der GKV. Die Beitragssätze dürfen nicht steigen, weil noch höhere „Lohnnebenkosten“ noch katastrophalere Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt hätten als ohnedem! Die Einnahmen der GKV können aber auch nicht steigen – wegen der starken (und womöglich noch wachsenden) Beschäftigungsausfälle. Fazit: Die finanzielle Krisensituation der GKV resultiert nicht aus „explodierenden“ Gesundheitsausgaben, sondern „implodierenden“ Gesundheitseinnahmen – ein Effekt, der in Zukunft (mit zunehmender Alterung und weiterer Verteuerung der Arbeit) noch fataler zu Buche schlagen wird.

· Gesundheitspolitisch ist es unverantwortbar, aus der „systembedingten“ Finanzmisere des Systems den Schluss zu ziehen, das deutsche Gesundheitswesen sei überteuert, seine Kosten könnten und müssten „gedämpft“ werden, der „konzertierte Irrtum“ aller Gesundheits-“reformer“ von Blüm über Seehofer, Fischer bis Schmidt. Und: Das System enthalte bei den Leistungserbringern (insbesondere Ärzten und Krankenhäusern) wahre Schätze an Leistungspotentialen (Produktivitätsreserven), die es zu heben gelte. Die schlichte, aber triste Wahrheit ist: Man mutet vor allem den Ärzten und ihren Helfern Gratisarbeit und erhebliche Verluste an Realeinkommen zu und erwartet, dass sie trotz Ausbeutung unverdrossen ihre Leistung steigern und ihren Service verbessern!

2. Dazu kommt als zweite Finanzierungslinie der Rückgriff auf die privaten Altersrücklagen der älteren Generation. Sie müssen nicht um jeden Preis vererbt werden, auch wenn Blüms Pflegeversicherung diesen unheilvollen Trend verstärkt. Der Leistungsgesellschaft ist mit strengen Erbschaftssteuer-Gesetzen mehr gedient als mit laxen, wie das Beispiel der (gewisslich nicht-kommunistischen) angelsächsischen Länder lehrt. Ältere, öfter oder dauernd kranke Menschen erhalten so die Motivation, ihre vorhandenen Vermögen verstärkt in die Erhaltung ihrer Gesundheit auszugeben statt für Ferienreisen oder die zweite Immobilie. Diese Individualisierung des Gesundheitsrisikos entlastet nicht nur den Staat, sondern vor allem die jüngere Generation. Sie bekommt günstigere, vom Solidarausgleich mit den Alten entlastete Tarife.

3. Der Ausweg aus dem von der Politik noch beschleunigten Bankrott des staatlichen Gesundheitssystems heißt somit: Mehr Markt wagen!

Ein solcher Gesundheitsmarkt könnte der grösste und dynamischste Dienstleistungsmarkt unserer Volkswirtschaft sein oder es werden: ein Beschäftigungsprogramm für bis zu 2 Millionen zusätzlicher Arbeitsplätze bei Ärzten, Krankenhäusern, Pflegestationen, Helfern und in derzeit wegen der GKV-Sparprogramme verkümmernden Heilregionen, wenn es die Politik nur zuliesse. Das gegenwärtige Misch- (oder Murks-)System mit Wettbewerb auf der Angebotsseite bei Ärzten und Krankenhäusern (denn sie müssen ihre Kosten betriebswirtschaftlich kalkulieren und erwirtschaften) aber staatlich bewirtschafteter Nachfrage und Preisen für Behandlung und Therapie (denn wegen des GKV-Zwanges mit staatlich gestoppten Beitragssätzen verordnet sich das System sein eigenes Defizit!) muss voll – und vor allem wieder – sowohl in die Geldwirtschaft wie in die Privatrechtsordnung integriert werden.

Der Krankenschein (oder –chip) als ein staatlich lizensiertes und manipuliertes Spezialgeld für medizinische Leistung und Versorgung gehört abgeschafft. Sein Kaufkraftverlust für Ärzte und sein Realwertverlust für die Patienten (sie müssen für ihre sachgerechte Behandlung immer mehr dazu zahlen) übersteigt bei weitem den des „gesetzlichen“ Geldes von DM bis Euro.

Dem Patienten ist bei genereller Versicherungspflicht (Jeder Erwerbstätige in Deutschland, gleichviel ob Arbeitnehmer, Arbeitgeber, Selbständiger oder Beamter muss sich obligatorisch krankenversichern) die Wahl von Krankenversicherung und –tarif freizustellen. Korrespondierend zur freien Arztwahl bedarf es systemnotwendig der freien Versicherungswahl! Die GKVen werden dadurch nicht überflüssig. Sie treten in den vollen Wettbewerb mit den privaten Krankenversicherungen (PKV) und erhalten die Option, sich selber auch zu privatisieren.

Letzteres besagt für Staat und Steuerzahler, dass beim Übergang von der staatlichen zur privaten Krankenversicherung keine „unbezahlbaren“ Übergangskosten anfallen. Sie werden innerhalb des Systems aufgefangen bzw. verrechnet.

4. Aus der Abschaffung von Krankenschein bei Beibehaltung der generellen Versicherungspflicht jedoch individueller Versicherungsfreiheit resultiert ein modernes, leistungsstarkes und patientenfreundliches Gesundheitswesen.

Es ist volkswirtschaftlich nicht mehr begrenzt durch Beiträge auf das „pflichtige“ Lohneinkommen eines Teiles der Arbeitnehmerschaft. Die neu entstehende Volks-Versicherung schöpft buchstäblich aus dem Vollen: dem gesamten Volkseinkommen und Wertschöpfungspotential der Volkswirtschaft einschliesslich Unternehmergewinnen, Kapitaleinkünften, Selbstständigen- und Beamteneinkommen („Schweizer Modell“). Weil sich dadurch der Finanzierungstopf um rund 40 Prozent vergrössert und der Wettbewerb der Krankenkassen um ihre Patienten ein europaweiter wird (denn das neue System fügt sich nahtlos in den liberalisierten europäischen Versicherungsmarkt ein!) können bei gesteigerter Leistung die Beitragssätze sogar kräftig sinken. Sie werden es, wie das Schweizer Beispiel belegt.

Der neue Gesundheitsmarkt stößt also weder an Finanzierungsgrenzen noch belastet er den Arbeitsmarkt. Im Gegenteil: Er senkt die Lohnnebenkosten deutlich und entlastet den Arbeitsmarkt von der Kostenseite und macht die Arbeit rentabler! Sie erhält im Wettbewerb mit dem billigen Kapital wieder eine Chance!

5. Für Patienten und Leistungserbringer bringt die Reform folgende Veränderungen und Vorteile mit sich. Es gibt nur noch

· Privatpatienten erster Klasse (Die Zwei-Klassen-Medizin verschwindet)

· Nur noch Privat- und keine Kassenärzte mehr

· Kein Dreinreden von GKV und anderen Kassen in die Intimsphäre von Patient und Arzt. Die Ärzte erhalten ihre durch keinerlei Leistungskataloge und Finanzierungsauflagen der GKV beschränkte Therapiefreiheit zurück. Sie müssen nicht mehr unter (Abrechnungs-)Kostenaspekten therapieren.

· Ärzte und Patienten kehren zurück in die Privatrechtsordung. Sie schliessen ihre Verträge individuell miteinander ab, nicht mehr mit einem Dritten: der GKV. (Insoweit werden auch die KVen für andere Aufgaben frei!)

· Der Arzt erhält sein Honorar vom Patienten, der Patient Kostenerstattung von seiner Kasse gemäss gewähltem Tarif.

5. Dennoch müssen, um US-ähnliche Verhältnisse (40 Prozent der Patienten sind dort un- oder unterversichert) folgende soziale und familienpolitische Auflagen und Sicherungsklauseln vom Gesetzgeber vorgegeben bzw. in das Tarif- und Prämiensystem eingebaut werden:

· Es gibt eine Mindestversicherungsgrenze – vergleichbar der Haftpflicht bei der Kfz-Versicherung

· Es gibt einen von den Arbeits- bzw Sozialämtern verwalteten „Sozialkrankenschein“ für Einkommenslose und –schwache mit Einnahmen unterhalb des steuerlich anerkannten Existenzminimums; er wird von Amts- oder Vertrauensärzten überprüft bzw verordnet

· Die Krankenversicherungen erhalten vom Gesetzgeber eine Vorgabe für familien- und kinderfreundliche Tarifgestaltung. Kinder und ihre Erzieher sind automatisch mitversichert. Das bedeutet, dass Kinderlose (Singles oder Paare) über ihre Tarifaufschläge die Kosten für anderer Leute Kinder und deren Erzieher finanzieren. Nur so lässt sich der „Humanbestand“ der Gesellschaft erhalten und lassen sich die sozialen Kosten und Ungerechtigkeiten des Alterungsprozesses „dämpfen“.

· Die Arbeitgeber bleiben in der Pflicht, sich an den Krankenversicherungskosten ihrer Mitarbeiter zu beteiligen. Die Gewerkschaften erhalten das Mandat, diese Beiträge oder Zuschüsse in ihre Tarifverhandlungen einzubeziehen.

Mit diesem 4-Punkte-Programm wird aus dem Gesundheitsmarkt ein neues und wichtiges Stück „sozialer Marktwirtschaft“

6. Parteien, die sich ein solches ebenso liberales wie soziales Programm auf ihre Fahnen schreiben, hätten nicht nur eine gute Chance über den Zuspruch aus den Kreisen der aus der Abhängigkeit von der GKV-Herrschaft befreiten Patienten und Ärzten, neue Wähler zu gewinnen.

Sie würden über den 22. September hinaus eine Botschaft verkünden, die für alle unerledigten und verschleppten Reformen unseres Staates und seiner Volkswirtschaft gilt: Wir brauchen mehr Effizienz und mehr Gerechtigkeit im Berufsleben wie bei der Neuordnung der Sozialsysteme. Nicht zufällig leiden wir überall da unter Krise und Verkrustung, wo es zuviel Bürokratie und Reglementierung gibt und zu wenig marktwirtschaftliche Elemente. In unserer europäisierten und globalisierten, in Wahrheit jedoch besitzstandsfixierten Welt kann nur ein Markt alte, längst kontraproduktiv arbeitende Strukturen aufbrechen - kein aus diesen Strukturen gebildetes und sie festschreibendes System.

Freilich: Dieser Markt muss politisch überwacht und sozial in die gewünschten Bahnen gelenkt werden.

Diese Botschaft Ludwig Erhards ist im deutschen Gesundheitswesen aktueller denn je.