Steine statt Brot?

Der Grundrechtsschutz der Europäischen Union zwischen politischem Anspruch und juristischer Wirklichkeit

2002 +++ Sebastian Brökelmann +++ Quelle: Ludwigs-Maximilians-Universität München 30. September 2002

Die Europäische Union verfügt über eine jahrzehntelange Grundrechtstradition. Obwohl die Verträge, die zu der Europäischen Union führten, keinen Grundrechtskatalog enthalten, sind die Organe der EU seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts politisch und rechtlich an einen laufend wachsenden Grundrechtsbestand gebunden. Die grundrechtliche Bindung der Gemeinschaftsorgane entwickelte der Europäische Gerichtshof durch eine eigenständige Grundrechtsprechung. Als Rechtserkenntnisquellen nutzt der EuGH hierfür nicht nur die Gemeinschaftsverträge, sondern darüber hinaus auch die Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten sowie völkerrechtliche Abkommen, denen die Mitgliedstaaten beigetreten sind oder die sie zumindest mit erarbeitet haben. Auf der Grundlage dieser Rechtsquellen hat der EuGH einen umfangreichen Bestand an Grundrechten herausgearbeitet, auf die der Unionsbürger sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts stützen kann. Dieser Grundrechtsbestand umfasst zahlreiche und vielschichtige Grundrechte, insbesondere im unternehmerischen und im prozessualen Bereich.

Dem formell gewährten Grundrechtsschutz stehen allerdings in der Praxis Anwendungsprobleme gegenüber. So hat der Bürger nur sehr beschränkte Klagemöglichkeiten, um eine Grundrechtsverletzung vor dem EuGH geltend machen zu können. Da es keinen verbindlichen Grundrechtskatalog für die EU gibt, muss der Bürger die umfangreiche Literatur der Gerichtsentscheidungen des EuGH studieren, um annähernde Klarheit über seine Rechte zu erlangen. Deshalb enthält diese Arbeit eine umfassende Übersicht über die gemeinschaftsrechtlich gewährten Grundrechte mitsamt ihren Fundstellen.

Die Grundrechtscharta von Nizza fügt sich in diese Grundrechtstradition der EU ein. Die Erarbeitung eines umfassenden Grundrechtskataloges für die EU war nötig geworden, da im Zuge der fortschreitenden europäischen Integration zunehmend Kompetenzen von den Nationalstaaten auf die Organe der Union übertragen worden waren. Der Grundrechtscharta kommen damit zwei wesentliche Funktionen zu: Sie muss einerseits den bisherigen Bestand der durch den EuGH entwickelten Grundrechte absichern und die Defizite der bisherigen Grundrechtsprechung korrigieren; andererseits muss sie als politisches Bindemittel zwischen den Bürgern und der Gemeinschaftsgewalt fungieren.

Beide dieser Aufgaben kann die Grundrechtscharta nur sehr bedingt wahrnehmen. Die Charta stellt zwar einen modernen Grundrechtskatalog dar, der in vielen Bereichen der gesellschaftlichen Situation zu Beginn des 21. Jahrhunderts gerecht wird. Größtes Manko für die Wirkung der Grundrechte ist jedoch ihre rechtliche Unverbindlichkeit. Die rechtlichen Anwendungsmöglichkeiten der in der Charta gewährten Grundrechte sind somit begrenzt. Auch die politische Bindung der Organe der EU an die Grundrechtscharta wird gegenwärtig noch nicht deutlich.

Die bloße Verkündung der Grundrechtscharta reicht deshalb nicht aus, um der Charta zu ihrer vollen Wirkung zu verhelfen. Vielmehr muss die Charta von weiteren politischen und rechtlichen Maßnahmen begleitet werden, um den Bürger langfristig für das Projekt Europa zu gewinnen. Dazu zählt die politische Anwendung der Charta ebenso wie die rechtliche Weiterentwicklung der Charta im Rahmen eines Verfassungsprozesses der EU.

Die komplette Arbeit (1,5 MB, pdf-Format) kann hier heruntergeladen werden.