Bundespräsident a.D. Roman Herzog über Bürokratie, die Notwendigkeit zur Verfassungsänderung und eine verbreitete Vollkasko-Mentalität
2002 +++ Roman Herzog/ Interview mit A. von Gersdorff +++ Quelle: Berliner Morgenpost 18.02.2002
Die Ideen von Ludwig Erhard sind unverändert richtig. Aber
leider hat sich die deutsche Wirklichkeit sehr weit davon entfernt: Der
Staat wird immer fetter, die Unternehmen zunehmend gegängelt und die Bürger
weiter entmündigt. Deshalb brauchen wir dringend eine Erneuerung der Sozialen
Marktwirtschaft. Eigeninitiative und Eigenverantwortung müssen wieder im
Mittelpunkt von Wirtschaft und Sozialsystem stehen. Heute ertönt bei jedem Problem sofort der Ruf nach dem
Staat und nach neuen Gesetzen. Gerade dadurch schaffen wir aber immer neue
Probleme. Diese deutsche Mentalität der Staatsgläubigkeit muss ordentlich
durchgelüftet werden. Ich vertraue lieber auf eine Gesellschaft verantwortungsbewusster
Bürger als auf eine Heerschar von Regierungsräten. Wir brauchen nicht ständig neue Experimente, sondern eine
konsequente Durchforstung des Arbeitsrechts. Mehr als vier Millionen Menschen
sind in Deutschland arbeitslos. Gleichzeitig haben wir ein riesiges Beschäftigungspotenzial,
das aber brach liegt, weil der Arbeitsmarkt immer weiter reguliert wird.
Denken Sie nur an die ganzen Vorschriften zum Kündigungsschutz. Da freuen
sich zwar alle Beschäftigten, die vor den Arbeitsgerichten eine hohe Abfindung
erstreiten können. Die Zeche zahlen aber letztlich die Arbeitslosen. Denn
deren Chancen auf eine Anstellung werden immer geringer, je größer das Risiko
für die Unternehmen wird. Diese systematische Bevorzugung der Beschäftigten
gegenüber den Arbeitslosen ist doch der eigentliche Skandal unseres Arbeitsmarktes. Bei jeder großen Reform stößt die Politik sofort auf den
organisierten Widerstand von zahlreichen Interessengruppen. Da ist dann
jeder grundsätzlich für eine Vereinfachung oder die Streichung von Privilegien
aber nur solange er nicht selbst betroffen ist. Gegen dieses Sankt-Florians-Prinzip
hilft nur eine allgemeine Reformstimmung. In Deutschland kommt erschwerend
hinzu, dass unser politisches System zu Selbstblockaden neigt. Das meiste Geld lässt sich bei Steuersubventionen und den
Sozialsystemen sparen. Das geht aber nur dann, wenn wir uns von der Vollkasko-Mentalität
verabschieden. Wir können nicht alle Risiken und Wünsche auf den Staat übertragen.
Das wird unbezahlbar. Für die eigentlichen Aufgaben des Staates fehlt dann
häufig das Geld: Wir bezahlen beispielsweise auch bei Leuten, bei denen
das nicht unbedingt nötig ist, Milliarden für die Förderung des privaten
Wohnungsbaus, während viele Schulen und Polizeistationen aussehen wie Ruinen.
Die Möbel und sanitären Anlagen sind oft nur noch Sperrmüll. Das sind klar
die falschen Prioritäten. Man kann auf der einen Seite weniger, auf der
anderen dafür mehr tun. Es funktioniert nur dann, wenn wir auch auf die Eigenverantwortung
der Versicherten setzen. In der Krankenversicherung müssen wir zwischen
Pflicht- und Wahlleistungen unterscheiden. Die Krankenkasse soll weiterhin
das medizinisch Not-wendige bezahlen. Aber wer eine Luxuskur machen möchte,
soll dafür nicht die Allgemeinheit in Anspruch nehmen. Eine Bildungsreform! Schon vor der Pisa-Studie war der
dramatische Zustand unserer Schulen offensichtlich. Das Wichtigste wäre
aus meiner Sicht, die schulische Bildung wieder stärker auf die Grundfertigkeiten
wie Lesen, Schreiben und Rechnen zu konzentrieren vermehrt freilich um
den richtigen Umgang mit dem Computer. Diese elementaren Kulturtechniken
sind in der modernen Welt unverzichtbar für den Beruf und als mündiger
Bürger in der Demokratie.
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