Sie sind ein Kind der Reformation und wurden zuerst in England verbalisiert
2002 +++ Peter J. Opitz +++ Quelle: P.J. Opitz: Menschenrechte und Internationaler Menschenrechtsschutz im 20. Jahrhundert. W. Fink Verlag, München 2002Auszüge:
"Neben großartigen Erfolgen im Bereich von Wissenschaft und Technik sowie
dem Aufbau einer industriellen Zivilisation ... gehört (zur westlichen Moderne)
auch eine Reihe herausragender Leistungen im politischen Bereich: Die Idee der
Volkssouveränität; die aus ihr sich ergebende Form repräsentativer Demokratie
auf der Grundlage der Gewaltenteilung; der Rechtsstaat sowie last but not
least auch die Idee der Menschenrechte.
"Die Menschenrechte ... sind zum zentralen Ordnungsprinzip der globalen
Moderne geworden.
"Die Menschenrechtsidee ... ist kein geistiger Import aus einer anderen
Zivilisation, sondern wuchs aus dem geistigen Humus Europas. Ebenso richtig
ist allerdings, dass die Vorstellung von unveräußerlichen Rechten, die dem Menschen
angeboren sind und seine "Würde" fundieren, weder zum Kernbestand
der politischen Kultur des europäischen Mittelalters gehörte, noch eine der
verschiedenen geistigen Traditionen, aus denen sich diese Kultur speiste, entstand
Ð der griechischen und römischen ebenso wenig wie der jüdischen und christlichen
oder gar der germanischen oder romanischen Völker.
"Deshalb ist ... durchaus noch immer die Feststellung Georg Jellineks zutreffend,
dass die Idee angeborener und unveräußerlicher Rechte des Individuums eine "Frucht
der Reformation und ihrer Kämpfe" sei und nicht ein "Werk der Revolution"
(französische Revolution).
"In der Tat finden sich die ersten Menschenrechtskataloge - mit Gewissens-
und Religionsfreiheit sowie der Idee allgemeiner Rechtsgleichheit - im Umfeld
der Leveller-Bewegung und Cromwells New Model-Army.
"Bezeichnenderweise war der Erfolg der Leveller begrenzt. Ihre Führer wurden
schon bald von Cromwell entmachtet, und nach der Restauration der Monarchie
1660 zogen viele ihrer Anhänger es vor, England zu verlassen und in den nordamerikanischen
Kolonien ihr geistiges Heil und eine neue Heimat zu suchen. Dagegen setzte sich
in England mit der "Glorious Revolution" von 1689 jene Tradition von
ständischen Freiheiten und bürgerlichen Grundrechten durch, die bis in die Zeit
der Magna Charta zurückreicht ... Erst mit John Locke ... bahnt sich mit der
Umformung der traditionellen Naturrechts eine geistige Entwicklung an, die zur
Vorstellung unveräußerlicher Rechte des Individuums führen sollte.
"Obwohl die beiden großen bürgerlichen Revolutionen in Frankreich und in
Nordamerika den Sieg eines neuen Ordnungsparadigmas markieren, in dem die Idee
der Menschenrechte eine zentrale Stellung einnimmt, gelingt dieser auch mit
den revolutionären Umbrüchen noch nicht der endgültige Durchbruch.
"Hatte die Menschenrechtsidee schon während des 19. Jahrhunderts viel
von ihrer ursprünglichen Strahlkraft verloren, so geriet sie in der ersten
Hälfte des 20. Jahrhunderts mit dem Aufstieg der totalitären Bewegungen
zunächst in Russland, bald aber auch in Italien, Deutschland und Spanien
in tödliche Gefahr. Denn im Mittelpunkt dieser Ideologien stand nicht der
Mensch als Träger angeborener und unveräußerlicher Rechte, die
zu achten und zu schützen waren, sondern das Kollektiv - sei es als Rasse,
sei es als Klasse - demgegenüber das Individuum weder über eigenständige
Rechte noch über einen Eigenwert verfügte, den sein Wesen und seine
Würde ausmachte. Für alle Varianten der neuen Bewegungen - für
Faschisten und Falangisten ebenso wie für Nationalsozialisten und Kommunisten
- war der Einzelne nur Teil des Kollektivs, dem er sich unterzuordnen und für
das er sich notfalls zu opfern hatte, der über seinen Wert bestimmte und
über seinen Unwert und das in jedem Fall seine absolute Verfügbarkeit
beanspruchte.
"Es war nicht zuletzt eine Reaktion auf die menschenverachtende Politik
der totalitären Regime Europas selbst gegenüber Teilen ihrer eigenen Bevölkerung,
dass in Europa und Nordamerika nicht nur die Menschenrechtsidee wieder stärker
ins Bewusstsein trat, sondern sich auch die Überzeugung herauszubilden begann,
dass auch die internationale Gemeinschaft für den Schutz der Menschenrechte
Mitverantwortung übernehmen musste. Letzteres war insofern ein revolutionärer
Gedanke, als er mit dem Souveränitätsprinzip, wie es sich seit dem Westfälischen
Frieden als Strukturprinzip des internationalen Systems herausgebildet hatte,
unvereinbar war.
"Dieses Grundverständnis fand seinen Niederschlag in der "Allgemeinen
Menschenrechtserklärung" vom 10. Dezember 1948 - also 159 Jahre nach
der "Allgemeinen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte"
in Frankreich, die ebenfalls mit dem Anspruch auf universelle Geltung proklamiert
worden war."