Wir Deutschen kranken an der "Sozial-Idee"

Der Kampf der Freiberufler für Kostenerstattung gegen den übermächtigen Sozialstaat

2002 +++ Jost Brökelmann +++ Quelle: ambulant operieren 4/2002

Aktion Phoenix

Erinnern Sie sich noch an die Zeiten, als ambulante Operateure und Anästhesisten Kostenerstattung propagierten und sie bei der Aktion Phoenix in Nordrhein die Kassenärzte zu einer Großdemonstration mobilisierten? Damals rief der BAO zur Kostenerstattung auf. In einigen KVen wie z.B. Hessen wird noch immer Kostenerstattung dank der unermüdlichen und zielstrebigen Zusammenarbeit zwischen ambulanten Operateuren/Anästhesisten und KV praktiziert. Der anfängliche Impuls verpuffte schnell, als Sozialgerichte und Staat die Kostenerstattung den Vertragsärzten schlichtweg verboten. Trotzdem lebt die Idee der Kostenerstattung weiter. Der deutsche Ärztetag in Rostock forderte 2002 Kostenerstattung, ebenso wie im Bundestagswahlkampf 2002 die FDP und die CDU/CSU.

Als damaliger Vorsitzender des BAO habe ich mich beim Gesundheitsminister und in der Aktion Phoenix dafür eingesetzt, dass wir freiberuflich tätigen, niedergelassenen Ärzte die damals legale Kostenerstattung praktizieren dürfen. Es war in erster Linie der Versuch von unserer Seite, wieder unternehmerische Freiheit zu erlangen. Dieser Kampf um die Kostenerstattung ist mittlerweile durch vier Instanzen gegangen, hier nun erfolgt mein Zwischenbericht. Es ist ein Bericht über die Geschichte der freiberuflich tätigen Ärzte gegen einen übermächtigen Sozialstaat.

Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Essen (Az: L 11 KA 94/02)

Am 30. Oktober 2002 bestätigte das LSG: Professor Brökelmann soll die Zulassung entzogen werden, weil er aus monetären Gründen die Kostenerstattung in seiner Praxis umgesetzt habe und weil er gegen das Sachleistungssystem agiert und damit vertragsärztliche Pflichten gröblich verletzt habe. Den Krankenkassen sei nicht zuzumuten, mit einem Systemgegner zusammenzuarbeiten.

Seehofer gegen Kostenerstattung

Das Gesundheitsreformgesetz (GSG) von 1992 brachte den ambulanten Operateuren und Anästhesisten erhebliche Einnahmeverluste: Die Punktwerte, die um 1990 noch 11 bis 12 Pfennig betrugen, fielen auf 8, später 7 Pfennig pro Punkt und darunter. Damit waren ab 1993 viele der ambulanten Operationen nicht mehr kostendeckend vergütet.

Das 2. Neuordnungsgesetz (2. NOG) von 1997 brachte nun die Möglichkeit der Kostenerstattung auch für pflichtversicherte Kassenmitglieder, wobei die Kassen nur denjenigen Kassenanteil bezahlen mussten, den sie nach dem EBM schuldig waren. Die Kostenerstattung für Pflichtversicherte war in letzter Minute, d.h. einen Tag vor der Abstimmung im Bundestag, von der FDP ins Gesetz gebracht worden, um Pflichtversicherten etwas mehr Freiheit in ihrem System zukommen zu lassen. Sicher hat der damalige Gesundheitsminister Seehofer nicht an die ambulanten Operateure und Anästhesisten gedacht, als er diesem Gesetz zustimmte. Denn sobald er merkte, dass die ambulanten Operateure und Anästhesisten die Kostenerstattung als ein Instrument zu ihrer Befreiung aus der GKV einsetzten - auch in der Hoffnung, dass die Kassen aus einem gewissen Wettbewerb heraus mehr als den Pflichtanteil zahlen würden - da wandte sich Seehofer vehement gegen jede Kostenerstattung durch ambulante Operateure. Er rief öffentlich dazu auf, ihm die Namen von Ärzten zu nennen, die Kostenerstattung betrieben. Der Vorsitzende des BAO, Brökelmann, meldete sich in einem offenen Brief bei ihm und bezichtigte ihn des Denunziantentums. Brökelmann nannte als Rechtfertigungsgrund für den Einsatz der Kostenerstattung die nicht-kostendeckende Vergütung der ambulanten Operationen. Diese Art des Operierens hatte sich seit 1978 (1. Symposium für ambulantes Operieren in Mainz, Prof. Bourmer) ausgebreitet. Da die ambulanten Operationen und Anästhesien jedoch aus der Gesamtvergütung der Kassenärztlichen Versorgung bezahlt wurden, also ihre Vergütung von der Mehrheit der Vertragsärzte abhängig war, kam bei den ambulanten Operteuren immer weniger Geld für ihre Leistungen an.

Tribunale im BMG

Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) bildete eine Kommission von drei Juristen unter Vorsitz von Dr. Orlowski und lud Brökelmann vor diese Kommission. Ihm wurde vertragswidriges Verhalten vorgeworfen. Dieser konterte, dass im Honorarverteilungsmaßstab (HVM) der KVNo ausdrücklich stand, dass Vertragsärzte keine Leistungen in roten Zahlen erbringen müssten. Die Juristen des BMG waren überrascht, es wurde eine Denkpause eingelegt. Einige Monate später wurde Brökelmann wieder vor diese Kommission geladen und hatte sich für diese "Sitzung", die eher einem Tribunal glich, als Beistand den Vertragsarzt Dr. Dr. Hagedorn mitgenommen. Dr. Hagedorn ist Arzt und Jurist und hatte damals diesen ominösen Satz in den HVM gebracht, dass Vertragsärzte nicht zu Leistungen gezwungen werden dürfen. Die Ansichten des BMG blieben unvereinbar mit den Ansichten der beiden niedergelassenen Ärzte. Daraufhin verfasste das BMG unter Federführung des Ministerialdirektors Zipperer einen Brief an das zuständige Ministerium in Düsseldorf, in dem die Aufsichtsbehörde der KVNo daraufhingewiesen wurde, dass obiger Satz im HVM das System der gesetzlichen Krankenversicherung zu sprengen drohe. Wenig später stellten die Krankenkassenverbände außerdem Antrag auf Entzug der Kassenzulassung von Brökelmann.

LSG Essen stützt das System

Der Wunsch des BMG und damit der damaligen CDU/CSU-Regierung zeigte Wirkung. Das Ministerium in Düsseldorf - SPD-regiert - verfügte per Aufsichtsanordnung, den Satz aus dem HVM zu streichen. Die KV klagte dagegen, unterlag jedoch in den gerichtlichen Instanzen. Bekannt wurde diese Affäre durch die Entscheidung des Landessozialgerichts (LSG) Essen unter dem Vorsitzenden Dr. Burghardt (L 11 B 35/98 KA). Der Senat urteilte, dass der Satz im HVM rechtswidrig sei, dass alle Vertragsärzte die "Kernleistungen" ihres Fachgebietes ohne Einschränkung und ohne Rücksicht auf irgendwelche Kostenüberlegungen erbringen müssen. Das LSG definierte jedoch nicht, was Kernleistungen sind, und hat diese Definition bis heute auch nicht gegeben.

Entzug der Kassenzulassung

Der Antrag der Kassenverbände auf Entzug der Kassenzulassung von Brökelmann wurde zunächst im Zulassungsausschuss abgelehnt. Das war möglich, weil der Vorsitzende des Zulassungsausschusses ein Kassenarzt war, die Kassenärzte gegen den Entzug votierten und die Kassenverbände dafür. Im Zulassungsausschuss gilt eine Entscheidung als nicht angenommen, wenn eine Pattsituation bei der Abstimmung besteht.

Im Berufungsausschuss war die Situation nun umgekehrt: Vorsitzender war ein Vertreter der Krankenkasse. Da der Vorsitzende eine eigene Stimme hat, fiel das Votum für die Kassenverbände positiv aus, der Entzug wurde ausgesprochen. Der Vorsitzende des Berufungsausschusses war ein ehemaliger Sozialrichter des Sozialgerichtes Köln. Damit war die Entscheidung schon vorgegeben. Alle Argumente, die in den folgenden Instanzen vorgebracht wurden (s. unten), wurden damals schon verbalisiert und abgelehnt.

Das Sozialgericht Köln (S 19 KA 186/00) ließ überhaupt nicht gelten, dass das 1997/1998 geltende Recht (2. NOG) die Kostenerstattung zuließ. Es ging ihm um den "Geist" des Systems, das von Vertragsärzten ohne wenn und aber berücksichtigt werden müsste. Die Sitzung gipfelte in einem "Beweis" der Krankenkassenverbände, die einen Aufsatz über Kostenerstattung von Brökelmann und Halbe aus dem Internet vorlegten. Es sei offensichtlich, dass Brökelmann nach wie vor gegen das System eingestellt sei, indem er Kostenerstattung forderte. In dem Aufsatz, der schon in "ambulant operieren" 1/2001, 18 ff. veröffentlicht war, sprachen sich Brökelmann und sein Rechtsanwalt Dr. Halbe dafür aus, dass die Berufsfreiheit der niedergelassenen Ärzte höher steht als der Erhalt des Systems der GKV. Dieser "Beweis" der Kassenverbände wurde vom Sozialgericht akzeptiert, was Rechtsanwalt Dr. Halbe dazu veranlasste, das Grundrecht auf Meinungsfreiheit (Artikel 5 GG) auch für Brökelmann zu fordern. Die Klage von Brökelmann wurde abgewiesen.

Die Sitzung vor dem Landessozialgericht Essen am 30. Oktober verlief, so wie es eigentlich bei den bisher bekannt gewordenen Entscheidungen dieses Senates vorauszusehen war. Der gleiche Vorsitzende Richter Dr. Burghardt, der in dem bekannten Urteil gegen die KVNo die "Kernleistungen" nicht definierte, rechnete mit Akribie vor, welche Einnahmen die Gemeinschaftspraxis Brökelmann in den Jahren 1997 und 1998 hatte. Die Einnahmen der Gemeinschaftspraxis aus dem gesamten kurativen Bereich beliefen sich auf 60.000 DM pro Monat. Daraus und aus den absinkenden Einnahmen während der Zeit der Kostenerstattung kalkulierte das Gericht, wie viele Patientinnen angeblich in die Kostenerstattung "getrieben" worden seien, nämlich 800.

Als Beweis für den Zwang, dem die Patientinnen angeblich ausgesetzt waren, wurde ein Brief einer Patientin F. vorgelesen. Diese hatte nach Aufforderung durch ihre Kasse (!) geschrieben, dass sie die Kostenerstattung und damit Privatbehandlung gewählt habe, weil die Behandlung auf Chipkarte nur eine "ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Leistung" laut Gesetz sein dürfe, sie aber gern wie eine Privatpatientin behandelt werden wolle. Dass dieses eigentlich ein Beweis dafür war, dass Kassenmitglieder von ihren Krankenkassen nicht richtig informiert waren und sind, was die GKV nach dem Gesetz leisten darf, dass wollte der Vorsitzende Richter natürlich nicht wahrhaben. Er sah nur, dass Kassenmitglieder in die Kostenerstattung "getrieben" wurden.

In einem längeren Plädoyer hat Brökelmann noch einmal die in der Klagebegründung festgehaltenen Argumente vorgetragen:

1.      Es geht um die Berufsfreiheit der niedergelassenen Ärzte nach Artikel 12 des Grundgesetzes.

2.      Es geht um die Unternehmerfreiheit der niedergelassenen Ärzte nach Artikel 16 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.

3.      Die Kostenerstattung für pflichtversicherte Kassenmitglieder war damals legal.

4.      Keine Patientin ist in die Kostenerstattung getrieben worden. Es fehlt jeder Zeugenbeweis. Zwischen dem Informationsgespräch und der Operation hatten zumindest Tage, wenn nicht Wochen gelegen, so dass jede Patientin Zeit zum Überlegen hatte. Alle hatten die Kostenerstattung freiwillig gewählt.

5.      Die Kostenerstattung schien den ambulanten Operateuren und Anästhesisten als ein Ausweg aus der Versklavung, die sie in der GKV erlebten.

6.      Ambulante Operationen, d.h. stationsersetzende Eingriffe, liegen nicht im Sicherstellungsauftrag der KVen, denn Krankenhäuser können diese Eingriffe ebenfalls erbringen.

7.      Es geht um die grundlegende Frage, was höher bewertet wird - das Grundgesetz (Berufsfreiheit nach Artikel 12 GG) oder das "System" der GKV.

 

Nach diesem Plädoyer für die Freiberuflichkeit ordnete der Vorsitzende Richter erst einmal eine Pause von 30 Minuten an, damit "nachgedacht" werden könne.

Nach der Mittagspause war es offensichtlich, dass der Vorsitzende Richter krampfhaft versuchte, den Kläger als Systemgegner zu entlarven. Ziel war zu beweisen, dass Brökelmann "aus monetären Gründen" gehandelt habe, denn dieses dürfe er als Vertragsarzt nicht.

Die Argumente flogen hin und her. Wahrscheinlich hat der Vorsitzende Richter nicht häufig selbstbewusste Bürger vor sich. Bei dem Argument, dass das Unternehmerrisiko laut Bundessozialgericht bei den Freiberuflern liegt, nickte er. Dass aus diesem Unternehmerrisiko aber auch betriebswirtschaftliche Zwänge resultieren, das wollte er wiederum nicht wahrhaben. Besonders das Argument, dass die 60.000 DM Einnahmen pro Monat entsprechende Praxisausgaben in größerem Umfang gegenüberstanden, wollte er nicht gelten lassen. Mit den Worten "Wir haben nicht über eine angemessene Vergütung zu urteilen" wischte er alle betriebswirtschaftlichen Argumente vom Tisch. Die Aussage, dass die Krankenkassen ein Monopol hätten, schien zunächst Zustimmung zu erreichen. Das weiterführende Argument, dass die Krankenkassen mit ihrem Monopol aber gegen Kartellrecht der EU verstoßen könnten, wurde sofort abgeblockt. Ein weiteres Argument, dass laut Sodan (1997) die GKV verfassungswidrig sei, weil sie 90 % der Bevölkerung umfasst, resultierte in der Antwort "Wir kennen die Meinung von Herrn Sodan". Dass Kostenerstattung damals per Gesetz erlaubt war, war für den Vorsitzenden Richter kein ernst zu nehmendes Argument. Für ihn galt als bewiesen, dass die Patienten "instrumentalisiert" wurden, um das System der gesetzlichen Krankenversicherung zu verändern. Es war offensichtlich, dass es dem Senat nur um den Erhalt des Sachleistungssystems ging; Berufsfreiheit der Ärzte und Informationsrecht der Patienten waren für ihn nachrangig.

Dann meinte der Vorsitzende ernstlich, ich dürfe in meiner Arztpraxis nicht zwischen Kassen- und Privatpatienten unterscheiden und z.B. Kassensprechstunden einrichten. Natürlich nehme ich als Freiberufler dieses Recht für mich in Anspruch. Danach wollte der Vorsitzende noch wissen, wie viele Einnahmen außerhalb der KV ich habe. Diese Aussage habe ich klar verweigert. Ich habe ihm jedoch die Betriebskosten der Gemeinschaftspraxis genannt, aus der er ungefähr berechnen konnte, dass die Betriebskosten im GKV-Bereich nicht oder gerade gedeckt waren, dass also kein "Unternehmerlohn" übrigblieb.

Mit bohrenden Fragen und verzerrter Miene drehte und wendete der Vorsitzende dann alle Argumente, bis er ausrief "Sehen sie, jetzt haben Sie es selbst gesagt: Sie haben aus finanziellen, aus monetären Gründen gehandelt". Dieses hätte das BSG verboten; deswegen läge dieser Senat mit seiner Meinung völlig richtig, dass ich gegen Vertragsarztpflichten gehandelt hätte.

Erinnerungen an die Inquisition

Der Auftritt vor dem Sozialgericht weckte in mir verschiedene Assoziationen. Die jetzige Sitzung erinnerte an Berichte von Verhören während der Zeit der Inquisition. Angeklagte wurden damals verbal gedrängt zuzugeben, sie hätten systemfeindliche Gedanken gehabt; konnte man durch irgendeinen Anflug von Äußerung "beweisen", dass der Angeklagte vom Teufel besessen sei, wurde er aus dem System ausgegliedert. Das "System" heiligte die Mittel. Genauso geschieht es heute, wo das System der GKV das Recht beansprucht, das Grundgesetz Artikel 12 für Freiberufler aussetzen zu können.

Die Sitzung erinnerte mich auch an einen Vortrag des Nobelpreisträgers Linus Pauling im Jahre 1960 in den USA. Er berichtet damals, wie das "Committee for Unamerican Affairs" ihm Kommunistenfreundlichkeit vorwarf, weil er frei dachte und handelte. Ich glaube, er wurde sogar in Untersuchungshaft genommen. Es hat mich damals erschüttert, dass auch in dem freiheitlichen Amerika ideologische Systeme, in diesem Fall Kommunistenverfolgung in der McCarthy-Ära, zur Unterdrückung von Menschenrechten führten. Die amerikanische Demokratie hat jedoch diese Ideologie überwunden.

Ähnliche Erlebnisse mit der Willkür des Staates haben zahlreiche Deutsche im Nazireich und unter dem SED-Regime gehabt. Es handelt sich um den seit altersher bestehenden Kampf des Individuums oder der Bürger gegen die Tyrannei. Die erste Demokratie in Griechenland wurde im Kampf gegen die Tyrannen gegründet. Die Amerikaner erkämpften sich 1776 ihre Freiheit und Demokratie gegen die herrschenden Kolonialmächte. Dieser amerikanische Freiheitskampf zündete einige Jahre später in Paris die französische Revolution. Es dauerte Jahre, bis in Deutschland 1848 gegen die preußische Herrschaft und für bürgerliche Rechte gekämpft wurde. 1989 stand wieder ein Teil des deutschen Volkes auf, um gegen Gewaltherrschaft zu kämpfen. Heute werden wir Deutsche von einem Sozialstaat beherrscht, der Menschenrechte missachtet. Leider ist die Mehrzahl der Deutschen noch von der Idee des Sozialstaates geblendet, darüber weiter unten.

Wie geht das Verfahren weiter?

Wir werden Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision beim Bundessozialgericht erheben. Wenn das BSG diese Beschwerde abweist, ist der Rechtsweg beendet und wir können Klage vor dem Bundesverfassungsgericht erheben. Mit dieser zu erwartenden Beschwerdeabweisung des BSG ist der Zulassungsentzug aber auch rechtskräftig, d.h. Brökelmann darf nicht mehr als Vertragsarzt arbeiten. Sein Kassenarztsitz geht jedoch nicht verloren, er muss neu ausgeschrieben werden. Dann wird er mit jemandem besetzt, der in die Partnerschaft hineinpasst. Verloren wäre der Sitz nur, wenn § 102 des SGB V umgesetzt würde, nämlich die Reduzierung von KV-Sitzen. Die Umsetzung dieses Gesetzesparagraphen hat das BMG jedoch auf unbestimmte Zeit verschoben (ambulant operieren, 2/2002, 61). Außer dem Gang zum Bundesverfassungsgericht prüfen wir zur Zeit einen möglichen Gang vor die europäischen Gerichte. Offenbar steht die Front der Sozialgerichte bis hin zum Bundessozialgericht für den Erhalt des Systems. Ob das Bundesverfassungsgericht aufgrund der europäischen Entwicklung umdenkt, ist ungewiss. Der wahre Druck auf das deutsche Sozialstaatssystem kommt nur aus Europa: Die Grundfreiheiten der europäischen Union stehen diametral entgegen dem abgeschotteten deutschen Sozialstaat. Wir bauen darauf, dass Europa sich durchsetzen wird.

Grundsätzliche Bemerkungen zum System der "Sozial-Idee"

Die Grundidee des deutschen Sozialstaates, von mir kurz "Sozial-Idee" genannt, entspringt alten Traditionen: Einmal der christlichen Idee der Nächstenliebe ("tue Gutes"), dann der Idee der von Gott eingesetzten Herrscher (Kaiser, König, Parteivorsitzender und Bundeskanzler), die alle etwas Gutes für die Gemeinschaft tun sollen; besonders wird dieses deutlich im preußischen Wohlfahrtsstaat. Nicht zuletzt ist die Idee des sozialen Engagements bei Sozialdemokraten und Kommunisten als Religionsersatz gepflegt worden.

Die Grundidee eines sozialen Engagements ist m.E. gut. Es fragt sich nur, zu wessen Lasten die Sozial-Idee verwirklicht wird. Wenn die Sozial-Idee zu Lasten der Mitglieder einer Solidargemeinschaft realisiert wird, ist dieses in Ordnung. Wenn diese Idee jedoch zu Lasten Dritter durchgesetzt wird, muss einer solchen Idee Einhalt geboten werden.

In Deutschland besteht eine zwangsweise Solidargemeinschaft von 90 % der Bevölkerung. Ärzte und andere Freiberufler sowie Beamte gehören nicht zu dieser Solidargemeinschaft. In zwei wesentlichen Bereichen setzt die Solidargemeinschaft der GKV jedoch ihre Ideen zu Lasten Dritter durch: Gegenüber den freiberuflich Tätigen im Gesundheitswesen und gegenüber den jüngeren Generationen des gesamten Volkes.

"Sozial-Idee" zu Lasten Dritter

- Zu Lasten der Freiberufler

Das herrschende System zwingt die Kassenärzte/Vertragsärzte, ihre Leistungen für Mitglieder der GKV zu nicht-kostendeckenden Preisen zu erbringen, den Fortschritt der Medizin allen GKV-Mitgliedern zum Null-Tarif anzubieten und sich das nötige Geld für diesen innerbetrieblichen Solidaraustausch von Privatpatienten, die nicht Teil der Solidargemeinschaft sind, einzuholen. Jeder Arzt weiß, dass über Privatpatienten etwa dreimal so viel Einkommen erwirtschaftet wird wie für die gleiche Leistung bei Kassenpatienten. Wir Kassenärzte werden also zu einem Solidaraustausch gezwungen, der ungesetzlich ist. Denn wer gibt uns das Recht, von Privatpatienten für die gleiche Leistung mehr zu nehmen als von Kassenpatienten. Dieser Solidaraustausch zwischen der privaten Krankenversicherung (PKV) und der GKV wird von der PKV vorsichtig auf 10 Mrd. DM geschätzt.

Gleichzeitig verlangt der Sozialstaat mit seinen Sozialgerichten, dass wir Kassenpatienten wie Privatpatienten behandeln, obwohl die Kassenbehandlung nur "ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich" sein muss. Das heißt, der Sozialstaat verlangt Leistungen, ohne rechtliche Grundlage und setzt Eigeninteressen durch. Man kann hier von einer Art Zwangsarbeit sprechen.

- Sozial-Idee zu Lasten künftiger Generationen

Das deutsche Sozialsystem beruht auf der Idee, dass die jüngeren Generationen die Lasten der älteren tragen sollen, sowohl was die Renten als auch was die Krankenversorgung betrifft. Dieser "Generationenvertrag" bürdet der jüngeren Generation alle Lasten der älteren auf. Diese Lasten waren noch einigermaßen gleich verteilt, als nach dem Krieg die Wirtschaft wuchs und die Zahl der Mitglieder der GKV anstieg. Das ganze System geriet in dem Moment ins Wanken, als diese zwei Prämissen nicht mehr stimmten: Als die Wirtschaft nicht mehr wuchs, sondern durch eine zunehmende Zahl von Arbeitslosen belastet wurde, und als die Bevölkerung weniger und weniger Kinder bekam. Das Ganze wurde dann ein Geschäft auf Pump: Die mittleren und älteren Generationen sparen nicht fürs Alter; sondern sie geben das Geld für ihr jetziges Leben aus und zwingen die nachfolgenden Generationen, ihnen ausreichende Rente und Krankenversorgung zu garantieren. Ederer (2000) beschreibt in seinem Buch aufgrund eigener Berechnungen und derjenigen von Prof. Raffelhüschen, wie groß dieser Schuldenberg bei den Deutschen schon angewachsen ist, im Jahre 2015 werden es 10 Billionen DM sein. Dieses ist das Mehrfache des jährlichen Bruttosozialproduktes von Deutschland. Jeder weiß, dass für eine vernünftige Finanzierung einer Immobilie oder eines Sozialsystems die Menschen nur soviel ausgeben dürfen, wie sie in ihrem eigenen Leben erwirtschaften. Die Deutschen haben aber für ihr Sozialsystem so gut wie nicht gespart. Andere Länder wie z.B. England sind schon seit vielen Jahren dazu übergegangen, dass jeder für sein Alter bis zu einem gewissen Grade selbst vorsorgen muss. Ederer belegt mit Beispielen, dass Engländer schon heute sicherere und höhere Renten als deutsche Arbeitnehmer und Angestellte haben, weil sie eben schon etwa ein Drittel ihrer Altersvorsorge privatfinanziert haben. Miegel (2002) spricht von 30 mageren Jahren, die auf die Deutschen zukommen, weil sie über ihre Verhältnisse gelebt und weil sie nicht genügend Kinder geboren haben.

Solidargemeinschaft der GKV lebt auf Pump

Halten wir fest: Unter dem Deckmantel der Sozial-Idee haben 90 % Deutschen seit Jahrzehnten auf Pump gelebt und dieses Geld für Freizeit, Reisen usw. ausgegeben. Sie haben nicht realisiert und verdrängen immer noch, dass Deutschland eines der hochverschuldetsten Industrieländer ist, und dass wir unsozial und eigennützig gehandelt haben, indem wir die Last der Altersvorsorge auf die jüngeren Generationen gewälzt haben. Unsere Idee vom deutschen Sozialstaat und "deutschem Weg" in der Sozialpolitik erweist sich als unsozial, weil nicht nachhaltig. Die Schulden, die wir Deutschen gemacht haben, erscheinen nicht in internationalen Bilanzen; sie werden jedoch die volkswirtschaftliche Entwicklung Deutschlands in den kommenden Jahren bremsen. Wir haben mit dieser Sozial-Idee außerdem die Grundrechte verletzt, wie sie in Artikel 1 unseres Grundgesetzes und in Artikel 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union festgelegt wurden; denn die zwangsweise Verpflichtung von Freiberuflern und jüngeren Generationen verstößt gegen die Menschenwürde.

Die deutschen Bundesregierungen - und da ist egal, ob die SPD oder die CDU/CSU regierte - haben krampfhaft versucht, dieses deutsche Sozialstaatssystem von Europa abzuschotten. Sie halten das System immer noch für eine große Errungenschaft und negieren den Schuldenberg, der sich angesammelt hat. Dass die deutsche Bundesregierung ihren Sozialstaat von Europa abschotten will, mag an einem Beispiel verdeutlicht werden: Unter der Gesundheitsministerin Fischer wurden alle Kartellrechtsfragen, die die GKV betreffen, an die Sozialgerichte verwiesen. Die Sozialgerichte hatten bislang überhaupt nichts mit Kartellrecht zu tun, sie waren dafür also nicht vorbereitet, aber sie sind die Hauptstützen dieses Sozialstaates. Prof. Koenig (2000) vom Institut für europäische Integrationsforschung  hat nachgewiesen, dass diese Rechtszuweisung nur vorgenommen wurde, um Kartellrechtsfragen des deutschen Sozialstaats dem europäischen Kartellrecht zu entziehen. Auch wenn sich die deutsche Bundesregierung in Sonntagsreden für Europa einsetzt, arbeitet sie subversiv gegen europäisches Recht und gegen europäische Grundrechte, um "ihren Sozialstaat" zu retten. Ähnlich ist es mit der Frage der Arzneimittelfestbeträge, die durch Krankenkassen festgesetzt wurden. Deutsche Gerichte und das Bundeskartellamt haben eindeutig entschieden, dass die Festsetzung von Festbeträgen gegen europäisches Kartellrecht verstößt. Was macht die Bundesregierung? Sie wirkt darauf ein, dass juristische Berater der europäische Kommission vertreten, dass Krankenkassen nicht Unternehmen seien, weil sie dem sozialen Gedanken dienen. Wenn Krankenkassen aus ihrer Monopolstellung heraus niedrige Preise für Pharmazeutika festlegen und Systemgegner aus dem System werfen, dann handeln sie wie Monopole und sollten wie jedes andere Monopol dem europäischen Kartellrecht unterworfen sein.

"Sozial-Idee" gegen Europa

Deutsche Regierungen haben sich immer wieder für das neue Europa, für die Grundfreiheiten in Europa ausgesprochen. Das sind u.a. Dienstleistungsfreiheit, freier Güter- und Warenaustausch und europäisches Kartellrecht. Die Grundfreiheiten gelten wie die Menschenwürde, die in der Grundrechtscharta beschrieben ist und von allen Bürgern des neuen Europas - nicht von den Regierungen - geachtet werden soll. Die Sozialstaatsidee ist in den europäischen Verträgen nicht gesondert enthalten, weil sie in der Forderung nach Menschenwürde schon enthalten ist (Schachtschneider). Wir brauchen nicht 90 % der Bevölkerung in einer gesetzlichen Krankenversicherung zwangszuorganisieren, um die Menschenwürde durchzusetzen. Sodan (1997) hat ausführlich dargelegt, warum eine Solidargemeinschaft, die 90 % der Bevölkerung zwangsorganisiert, unter unserem Grundgesetz verfassungswidrig ist. Auch der europäische Gerichtshof (EuGH) hat im Juli 2002 geurteilt, dass die europäischen Grundrechte vor dem deutschen Sachleistungsprinzip rangieren.

Halten wir also fest: Die Sozial-Idee als deutscher Sonderweg hat keine Zukunft in Europa. Aus Menschenrechtsgründen müssen die Mitglieder der GKV sofort beginnen, ihre Schulden abzutragen und eine vernünftige Altersvorsorge aufzubauen. Alle, die von dem Sozialstaat profitiert haben, sollten die Finanzen dieser Solidargemeinschaft auch wieder in Ordnung bringen. Hierfür dürfen sie diejenigen Mitbürger, die für ihr Alter schon vorgesorgt haben wie Freiberufler, Privatversicherte, Beamte usw., nicht in Anspruch nehmen.

Der Arztberuf ist ein freier Beruf

Für uns Ärzte gilt es, die Berufsfreiheit wiederzuerlangen. Denn die niedergelassenen Ärzte sind und bleiben Freiberufler. Auch die angestellten Ärzte in den Krankenhäusern müssen ihren Beruf frei ausüben können. Der Arztberuf ist laut Berufsordnung ein freier Beruf. Wir Ärzte müssen realisieren, dass Medizin immer am besten als ein freier Beruf ausgeübt wurde. Dafür spricht:

a.       Ärztliche Leistungen müssen persönlich und meist wohnortnah erbracht werden

b.      Die Qualität der Arbeit von freiberuflich tätigen Ärzte ist mindestens ebenso hoch, wenn nicht höher zu bewerten, als diejenige von Ärzten, die in einem Chefarzt-System arbeiten; so sind z.B. die Komplikationsraten nach Operationen in freier Praxis niedriger als alle bisher veröffentlichten Komplikationsraten aus Krankenhäusern (Brökelmann und Bung 2002).

c.       Die Kosten für ärztliche Leistungen, z.B. Operationen und Anästhesien, sind auch nach offiziellen Berechnungen nur halb so teuer wie gleichartige Krankenhausleistungen (Eichhorn, S. und Ewersmeyer 1999: Evaluierung endoskopischer Operationsverfahren im Krankenhaus und in der Praxis aus Sicht der Medizin, des Patienten und der Ökonomie. Thieme 1999)

 

Ärztlicher Nachwuchs

Unser besonderes Augenmerk muss dem ärztlichen Nachwuchs gelten. Auswahlkriterien könnten sein:

1.      Ärzte und Ärztinnen sollen sich auch in Zukunft sozial engagieren, d.h. sich um Sorgen und Krankheiten der Mitbürger kümmern.

2.      Ihre Tätigkeit müssen sie auf dem Boden der Grundrechte der Europäischen Union ausüben.

3.      Ärzte müssen eigenverantwortlich handeln und deshalb kritisch einem überbordenden Staat gegenüber stehen.

4.      Ärzte dürfen sich nicht zu Sklaven einer Ideologie wie der ̶Sozial-Idee“ missbrauchen lassen.

 

Was können wir tun?

1.      In erster Linie sollten wir dem Patienten durch gute Arbeit und Zuwendung helfen.

2.      Wir müssen aber auch unsere Rechte verteidigen. Dieses sollte in erster Linie vor Ort in unserer Praxis geschehen und nicht via Korporationen (Selbstverwaltungsorgane, Verbände), die in einer Bürgergesellschaft an Bedeutung verlieren.

 

Was das "System" am meisten fürchtet, ist die Zwei-Klassen-Medizin. So sagte Bundeskanzler Schröder in seiner Regierungserklärung kürzlich "Wir wollen kein Zwei-Klassen-Medizin". Die Mehrheit der Bevölkerung weiß, dass die Zwei-Klassen-Medizin schon heute existiert. Um unsere Berufsfreiheit wiederzuerlangen und um finanziell zu überleben, sollten wir uns nicht scheuen, nicht-notwendige Leistungen abzulehnen, d.h. wenn es um optimale Medizin oder Luxusmedizin geht, eine differenzierte Medizin zu betreiben. Folgende Möglichkeiten stehen uns offen:

(Die hier vorgesehenen Vorschläge habe ich auf dringenden Rat meiner juristischer Berater herausgenommen, um nicht des Aufrufs zur Zwei-Klassen-Medizin bezichtigt zu werden. Anscheinend gibt es diesbezüglich schon Entscheide. So weit ist es in Deutschland schon gekommen: Die Meinungsfreiheit wird beschnitten, weil der "Staat" die freie Meinung nicht hören will und Systemgegner an die Wand drückt!)

Da der Mensch eigennützig ist und immer das Beste für sich selbst will, also auch "optimale" Medizin, werden die Kassenpatienten bald dahinterkommen, dass der Staat sie belogen hat, dass Renten und Krankenversicherung nicht sicher sind. Letzteres nenne ich die große "Sozial-Lüge".

Für die Deutschen und insbesondere für die Mitglieder der Solidargemeinschaft wird gelten:

·        Wir werden jahrelang an den Schulden unseres jetzigen Sozialstaates zahlen müssen.

·        Vor uns liegen 30 magere Jahre (Miegel 2002).

·        Die jüngere Generation wird rebellieren und den sogenannten Generationenvortrag aufkündigen.

·        Alle Mitglieder der Solidargemeinschaft, auch die Alten, werden die Schulden zahlen müssen. Wir werden nicht so viel reisen können und mehr den guten alten Tugenden wie Fleiß, Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit auch den jüngeren Generationen gegenüber folgen müssen.

 

Die Deutschen stecken in einer Krise. Die Sozial-Idee hat sich als Sozial-Lüge erwiesen. Alle, aber insbesondere die Mitglieder der Solidargemeinschaft, müssen umdenken. Europa weist den Weg.

Literatur:

Brökelmann Jost, Peter Bung: Komplikationsraten in der ambulanten operativen Gynäkologie. Frauenarzt 43 (2002) 1046-1051

Brökelmann Jost, Bernd Halbe: Kann ein Vertragsarzt Leistungen der GKV aus ökonomischen Gründen verweigern? ambulant operieren 1/2001, 18-20

Ederer Günter: Die Sehnsucht nach einer verlogenen Welt. Unsere Angst vor Freiheit, Markt und Eigenverantwortung. Goldmann Verlag 2000

Eichhorn Siegfried,  Heike Eversmeyer: Evaluierung endoskopischer Operationsverfahren im Krankenhaus und in der Praxis aus Sicht der Medizin, des Patienten und der Ökonomie, Thieme 1999

Koenig Christian, Claude Sander: Vertragsverletzung durch Rechtswegzuweisung? EuZW 2000, 705

Miegel Meinhard: Die deformierte Gesellschaft. Wie die Deutschen ihre Wirklichkeit verdrängen. Propylen Verlag 2002

Sodan Helge: Freie Berufe als Leistungserbringer im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung. Mohr Siebeck 1997