Zum Spannungsverhältnis Vertragsarzt-Privatarzt

Darf ein Vertragsarzt Leistungen bei einem Kassenpatienten ablehnen, sie aber zugleich privatärztlich anbieten?

2002 +++ Herbert Schiller, Gernot Steinhilper +++ Quelle: MedR 2001, Heft 1, 29-33

Es folgen Auszüge aus oboger Arbeit von Dr. jur. Herbert Schiller und Dr. jur. Gernot Steinhilper, Justitiare der KV-Bayern bzw. der KV-Westfalen-Lippe:

I. Freiberuflichkeit und ökonomische Zwänge eines Vertragsarztes"

"Zum Berufsrisiko des freiberuflich [1] tätigen Arztes gehört auch die Rentabilität [2] seiner Praxis."

"Die Rentabilität einer Praxis wird selbstverständlich auch beeinflußt von den Honorareinnahmen. Der einzelne Vertragsarzt hat nach ständiger Rechtsprechung [3] allerdings keinen subjektiven Anspruch darauf, daß ihm jede vertragsärztliche Leistung kostendeckend und angemessen vergütet wird. Das in § 72 Abs. 2 SGB V normierte Gebot einer angemessenen Vergütung schützt nicht den einzelnen Arzt sondern ist nur von 'objektiv rechtlicher Bedeutung' [4] , bedeutet also lediglich die Verpflichtung, für die Vertragsärzteschaft eine angemessene Gesamtvergütung zu vereinbaren. Aus der mangelnden Rentabilität einer einzelnen Arztpraxis oder eines einzelnen Leistungsbereichs läßt sich nach der Rechtsprechung nicht auf die Unangemessenheit des Honorars der einzelnen Krankenkasse schließen."


"II. Wie weit binden Inhalt und Umfang des Sicherstellungsauftrages den einzelnen Vertragsarzt?"

"Die vertragsärztliche Versorgung ist nach dem Gesetz sicherzustellen (§ 72 SGB V). Adressdaten dieses Sicherstellungsauftrages, sozusagen die 'Auftragnehmer' sind nach § 75 Abs. 1 SGB V die Kassenärztlichen Vereinigungen und die Kassenärztliche Bundesvereinigung. Der Umfang der Sicherstellung ist hinreichend fest umrissen [5] ."

"Der einzelne zugelassene Vertragsarzt ist zur Teilnahme an dieser vertragsärztlichen Versorgung berechtigt und auch verpflichtet (§ 95 Abs. 3 SGBV). Die Kassenärztliche Vereinigung bedient sich gleichermaßen der an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte zur Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung. Die Teilnahmeverpflichtung des Vertragsarztes ist zwar gesetzlich verankert; der Umfang seiner Teilnahmepflicht ist aber nicht näher definiert."

"Gesetzliche oder vertragliche Vorgaben für den Mindestumfang der Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung gibt es demgegenüber nicht."

"Zwischenergebnis: Aus dem Sicherstellungsauftrag ergibt sich für den einzelnen Vertragsarzt grundsätzlich keine unmittelbare Verpflichtung, sämtliche Leistungen oder auch nur einen Mindestumfang an Leistungen seines Fachgebietes in seiner Vertragsarztpraxis vorzuhalten. Bei seiner Entscheidung, welche Leistungen er bei entsprechender Indikation anbietet und erbringt, ist der Vertragsarzt frei [6] . Er ist daher nicht verpflichtet, bestimmte (zusätzliche) Qualifikationen zu erwerben oder eine bestimmte Infrastruktur (z.B. Geräte oder Personalstamm) vorzuhalten, um das gesamte Diagnose- und Therapiefeld seines Fachgebietes anbieten zu können."

"Eine Sondersituation besteht darüber hinaus für das ambulante Operieren insofern als die Krankenhäuser auch zur ambulanten Durchführung der in dem Katalog nach § 115 b Abs. 1 SGB V genannten Operationen und stationsersetzten Eingriffe zugelassen sind. Hierfür trifft somit die Verantwortung für die Sicherstellung nicht die Kassenärztliche Vereinigung allein."


" IV. Ist der Mindestumfang des Leistungsangebotes eines Vertragsarztes vorgegeben?“

"Standardleistungen aus dem Kernbereich eines Fachgebietes gehören danach zu den Grundpflichten eines Vertragsarztes. Ordnungspolitisch mag dies sinnvoll sein, das Vertragsarztrecht selbst differenziert aber nicht zwischen Leistungen, die zum 'Fachgruppenstandard' oder zum 'Kernbereich' einer Vertragsarztpraxis oder (besser wohl) eines Fachgebietes gehören, und solchen, die seinem Randbereich zuzuordnen sind."

"Der Vertragsarzt ist in seinem ärztlichen Leistungsangebot frei, weil der Inhalt der vertragsärztlichen Versorgung von den am Sicherstellungsauftrag Beteiligten kollektiv erbracht werden muß und weil dies Kollektivverpflichtung auf den einzelnen Vertragsarzt nicht 'heruntergebrochen' werden kann, so daß er ein wie auch immer umschriebenes festes Leistungsspektrum für jeden Fall vorhalten und bei entsprechender Indikation auch erbringen muß."

"Nach dem Wortlaut des BSG-Urteils zur zurückwirkenden Teilbudgetierung der Gesprächs- und Betreuungsleistungen im EBM ist auch die Unrentabilität von Leistungen in einer bestimmten Praxis ausreichender Grund dafür, solche Leistungen nicht mehr zu erbringen."

"Bei seiner Entscheidung, welche diagnostischen und therapeutischen Verfahren er in seiner Praxis anbieten oder ob er die Patienten insoweit an andere Ärzte verweisen (überweisen) will, darf sich der Arzt vielmehr auch daran orientieren, ob bestimmte Leistungen im Hinblick auf die vorhandene bzw. erreichbare Zusammensetzung der Patientenschaft sowie unter Berücksichtigung der anfallenden Kosten und der erzielbaren Einnahmen wirtschaftlich erbracht werden können."

"Wenn die Rentabilität einer Praxis zum Berufsrisiko des Praxisinhabers gehört, muß es ihm ohne Einschränkung auch möglich sein, dieses Risiko selbst zu steuern, insbesondere zu mindern. Dem steht nicht entgegen, daß bei einer gleichzeitigen kollektiven, gleichsam flächendeckenden Ausgliederung von GKV-Leistungen die Sicherstellung für diesen Leistungsbereich tangiert sein könnte. Zum einen ist dies allenfalls eine Gefahr für spezielle Leistungsbereiche; zum anderen ist zur Beseitigung dieses Defizits nicht der einzelne Vertragsarzt, sondern die jeweilige Kassenärztliche Vereinigung verpflichtet.

Nach der LSG-Entscheidung soll der Arzt das Rentabilitätsrisiko seiner Praxis im Randbereich steuern können, im Kernbereich aber nicht. Ein sachlicher Grund für diese Unterscheidung ist der Entscheidung nicht zu entnehmen."


"VI. Ist es dem Vertragsarzt erlaubt, ein unterschiedliches Leistungsspektrum für GKV-Versicherte und privat Versicherte anzubieten?"

"Das Gericht berücksichtigt dabei nicht den geteilten Status eines Vertragsarztes. Er ist Vertragsarzt und zugleich auch Privatarzt. Für beide Bereiche gelten teilweise unterschiedliche Rechtskreise, Möglichkeiten und Pflichten."

"Ein gesetzliches Verbot, das dem Vertragsarzt untersagt, bestimmte ärztliche Leistungen, die auch GKV-Leistungen sind, nur privat anzubieten und abzurechnen, ist nicht ersichtlich. Hinzu kommt, daß die Kassenärztliche Vereinigung nur innerhalb des Vertragsarztrechts Rechtsbeziehungen zum und damit Einwirkungsmöglichkeiten auf den niedergelassenen Vertragsarzt hat, nicht aber im privatärztlichen Bereich."

"3. Voraussetzungen im einzelnen

Kommt ein GKV-Patient zum Vertragsarzt, der die erbetenen Leistungen nicht vertragsärztlich, sondern nur privatärztlich erbringt, so hat der Arzt den Patienten zunächst darauf hinzuweisen, daß es sich um eine GKV-Leistung handelt, die andere Ärzte zu GKV-Bedingungen erbringen, als auf Chipkarte und damit 'kostenfrei' für den Patienten. Er muß den Patienten auf leistungswillige andere Vertragsärzte hinweisen."



[1] Der niedergelassenen Vertragsarzt übt nicht nur (wie im übrigen auch alle anderen Ärzte) einen freien Beruf aus (vgl. § 1 Abs. 2 BÄO: "Der ärztliche freie Beruf ist kein Gewerbe, er ist seiner Natur nach ein freier Beruf"). Er ist auch freiberuflich i.S. von selbständig tätig (BVerfGE 11, 30, 40 f.; 16, 296, 298, BSG, SozR 2200 § 368a Nr. 7).

Der Begriff "freier Beruf" ist im Zusammenhang mit ärztlicher Tätigkeit allerdings wenig konturenscharf; § 89 Abs. 2 Nr. 13 SGB V enthält lediglich einen pauschalen Hinweis. Das gleiche gilt für die Ärzte-ZV (§32 Abs. 1). Das Gesetz knüpft an diesen Begriff keine Rechte und Pflichten. Folgerichtig qualifiziert das BVerfG den "freien Beruf" nicht als eindeutigen Rechtsbegriff (BVerfGE 10, 354, 364). Freiberuflichkeit heißt daher wohl nur "Selbständigkeit der ärztlichen Tätigkeit" (BVerfGE 11, 30, 40 ff.; vgl. zum ganzen sehr anschaulich Schulin, VSSR 1994, 357, 368 ff.). Der Ausschuß für das Gesundheitswesen (BT-Dr. III/2810, S.1) hat die Freiberuflichkeit der Ärzte charakterisiert mit der "Freiheit des ärztlichen Tuns ... unabhängig davon, in welcher Form der Beruf ausgeübt wird".

Angesichts der Eingebundenheit auch des Vertragsarztes in eine Gemeinwohlaufgabe spricht die Literatur allerdings von "staatlich gebundenem Beruf" (so erstmals Triepel, in FS f. Karl Binding, Band II, 1911, S. 1, 4 ff. und 47 ff.) oder neuerdings von einem 2/3- oder ¾-Beamten; vgl. z.B. Bogs, Das Grundrecht der Berufsfreiheit (Art. 12 GG) im Spiegel des Arztsystems, in: FS f. Werner Thieme, 1993, S. 715, 718 f.). A.A. u.a. Stober, MedR 1990, 10, 11; und Hess, VSSR 1994, 395, 398 ff. m. w. N.

Wenn im folgenden von "Vertragsarzt" oder "Ärzteschaft" gesprochen wird, sind damit grundsätzlich auch psychologische Psychotherapeuten sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten gemeint, soweit sie über eine Zulassung oder Ermächtigung aufgrund des Psychotherapeutengesetzes seit dem 1.1.1999 in das System der vertragsärztlichen Versorgung integriert sind.

[2] BSG, Urt. v. 6.5.1975 - 6 RKa 24/74 -; und v. 12.10.1994 - 6 RKa 5/94 -.

[3] Vg. BSGE 75, 187; 77, 279, 288; Urt. v. 3.3.19999 - B 6 Ka 8/98 R -. In diesem Sinne auch ein Teil der Literatur, s. z.B. Spoerr, MedR 1997, 342 ff. m.w.N. - z.T. wird sehr engagiert auch eine andere Auffassung vertreten; s. statt aller Sodan/Gast, NZS 1998, 497, 503; Wimmer, MedR 1998, 533; ders., NZS 1999, 480 (jew. m.w.N.).

Zur Angemessenheit der Gesamtvergütung s. statt aller Funk, in: Schulin (Hrsg.), Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 1, 1994, S. 857.

[4] BSG (fn.4).

[5] § 75 i.V. mit §§ 70, 72 und 73 Abs. 2 SGB V. Danach ist den Versicherten eine bedarfsgerechte und gleichmäßige ärztliche Versorgung in zumutbarer Entfernung unter Berücksichtigung des jeweiligen Standes der medizinischen Wissenschaft und Technik sowie der Möglichkeiten der Rationalisierung und Modernisierung zur Verfügung zu stellen. Regelungsinstrument sind dazu. u.a. die Bundesmantelverträge, der Einheitliche Bewertungsmaßstab, der Gesamtvertrag, Prüfvereinbarungen etc. Die Sicherstellung vollzieht sich auf der Ebene der gemeinsamen Selbstverwaltung (Krankenkassen und KV) und der ärztlichen Selbstverwaltung (KV).

[6] BSG, Urt. v. 17.9.1997 - 6 RKa 36/97 -.