Ein Blick in die Geschichte der KVen

Der Sicherstellungsauftrag der KVen - die Anfänge liegen bei Bismarck

2002 +++ Ellen Harnisch +++ Quelle: KV-Blatt extra 5/2002

Der Sicherstellungsauftrag, der heute bei den Kassenärztlichen Vereinigungen liegt, hat zwei Komponenten: KVen und KBV sind entsprechend § 75 SGB V verpflichtet, die vertragsärztliche Versorgung der Versicherten in der Gesetzlichen Krankenversicherung sicherzustellen und gegenüber den Krankenkassen die Gewähr zu übernehmen, daß diese Versorgung den gesetzlichen und vertraglichen Erfordernissen entspricht. Dazu gehören auch die Bereitschafts- bzw. Notfalldienste. Nach § 70 Abs. 1 SGB V haben Krankenkassen und Leistungserbringer eine bedarfsgerechte und gleichmäßige Versorgung entsprechend dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu gewährleisten.

Im Gegenzug sind die KVen die "Monopol"-Anbieter der ambulanten medizinischen Versorgung, d.h., die Vertragsärzte sind vor Konkurrenz z.B. aus dem Krankenhausbereich weitgehend geschützt. Allerdings haben die KVen mit der Übernahme des Sicherstellungsauftrages auch auf das Streikrecht verzichtet.

Die KVen müssen durchaus widersprüchliche Aufgaben wahrnehmen: Sie vertreten die Interessen ihrer Pflicht -Mitglieder, der zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassenen Ärzte und Psychologischen Psychotherapeuten; zugleich agieren sie als mittelbare Staatsgewalt und Kontroll-Behörde mit Disziplinarhoheit gegenüber eben diesen Mitgliedern.

Im Rahmen der von Reichskanzler Otto v. Bismarck angeregten Sozialreformgesetze treten 1883 das Krankenkassen-Organisationsgesetz und 1884 das Krankenversicherungsgesetz als erste in Kraft. Diese Gesetze bilden die Initialzündung für die rasche Entwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung. Für den nun versicherten Großteil der gewerblichen Arbeiter stellen die Krankenkassen die medizinische Versorgung sicher. Die Kassen stellen die Ärzte direkt ein oder bestimmen die Preise der ärztlichen Behandlung, indem sie mit einzelnen oder mehreren Ärzten privatrechtliche Verträge abschließen. In der Folgezeit wächst der Kreis der Versicherten durch andere Berufsgruppen, Familienangehörige und Rentner. Im Gegenzug beginnen sich die Ärzte zu organisieren, um ihre Verhandlungsposition gegenüber den Krankenkassen zu stärken. Da vor allem in industriellen Ballungsgebieten ein Überangebot an Ärzten herrscht, können die Kassen die Vertragsbedingungen diktieren.

Bemühungen der Reichsregierung, die sozialen Versicherungen allseitig und umfassend zu ordnen, münden in die Reichsversicherungsordnung (RVO) von 1911, die 1914 in Kraft tritt und als "Grundgesetz" der gesamten Sozialversicherung gilt. Diese trägt nicht nur den Forderungen der Angestellten nach einer unabhängigen Krankenversicherung Rechnung. Zuvor gab es eine unüberschaubare Zahl von Kassen, die nun in ein gegliedertes System von Kassenverbänden, wie wir es seither kennen, übergehen.

Das "Berliner Abkommen" legt Grundlagen der Selbstverwaltung

Die Ärzte ihrerseits beginnen, das Anstellungsmonopol der Kassen immer mehr in Frage zu stellen und drohen, da sie zudem ihre Forderungen nach freier Arztwahl, Einzelleistungshonorierung und Abschluß von Kollektivverträgen in der RVO nicht aufgenommen sehen, 1913 einen reichsweiten Ärztestreik an, organisiert vom Hartmannbund. Der Reichsregierung gelingt kurz vor Inkrafttreten der RVO eine Einigung zwischen den Kontrahenten: Es wird ein privatrechtlicher Vertrag zwischen der organisierten Kassenärzteschaft und den Kassenverbänden geschlossen, das "Berliner Abkommen". Seine Ergebnisse sind:

Kollektivverhandlungsmodell per Notverordnung eingeführt

Von den wiederholten Streiks der niedergelassenen Kassenärzte in den ersten Jahren der Weimarer Republik ist vor allem der vom Dezember 1923 bis Januar 1924 als der letzte große Konflikt zu erwähnen, zu dem wiederum der Hartmannbund aufruft. Die Ärzte verweigern diesmal nicht die Behandlung von Patienten, sondern verlangen sofortige Barbezahlung, da die Kassen schon mehrfach Zahlungsschwierigkeiten hatten. Hintergrund: Das Berliner Abkommen war ausgelaufen, kein Folgeabkommen mit den Kassen in Sicht und die Ärzte kämpfen um die Selbständigkeit ihrer Berufsausübung. Diesmal greift der Staat in die Auseinandersetzung ein und schafft per Notverordnung den "Reichsausschuß für Ärzte und Krankenkassen" als Zwangsarbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände. Er macht damit den Weg frei für Kollektivverhandlungen als zentrales Steuerungsinstrument.

KVen mit Sicherstellungsauftrag entstehen per Notverordnung

Unter dem Druck zur Ausgabenkürzung erwägen die Regierungsparteien, die Kassenärzte zu Kassenangestellten zu machen. Daraufhin präsentiert der Hartmannbund ein vom Ärztetag bestätigtes Programm, in dem Einkommensverluste der Ärzte akzeptiert werden, aber die Verteilung des vorhandenen Geldes in Eigenregie übernommen werden soll. In der Notverordnung von 1931 wird es von der Regierung erlassen. Damit werden die Beziehungen von Ärzten und Kassen neu geregelt und es entstehen Kassenärztliche Vereinigungen mit folgenden Aufgaben:

Die KVen werden "zur entscheidenden Schnittstelle zwischen den Kassen einerseits und der tatsächlichen medizinischen Versorgung andererseits"4, und mit den KVen wird ein Monopol der Ärzteinteressen gegenüber den Krankenkassen (Kollektivvertretung) rechtlich anerkannt und allgemein eingeführt. Damit entsteht erstmalig ein starkes Gegengewicht zum Verhandlungsmonopol der Kassen.

Auf der anderen Seite erkauft sich die Kassenärzteschaft die Freiheit, nicht mehr unmittelbar von den Krankenkassen kontrolliert zu werden, mit einer engeren Einbindung in das Staatsgefüge durch Übertragung öffentlicher Aufgaben.5 Mit einer solchen berufsständischen Konstruktion ist das Prinzip der KVen eine deutsche Besonderheit.

Nationalsozialisten beenden die ärztliche Selbstverwaltung

Mit der faschistischen Machtübernahme kommt das schnelle Ende der ärztlichen Selbstverwaltung für die KVen, sie werden in den NS-Staat eingegliedert und fungieren vielmehr als Erfüllungsgehilfen z.B. bei der Zulassungsentziehung der jüdischen und politisch oppositionellen Kassenärzte. Bereits 1933 wird im Zuge der Gleichschaltung zudem die Kassenärztliche Vereinigung Deutschlands (KVD) als Körperschaft des öffentlichen Rechts gebildet, als (lt. Satzung) "die allein berufene Vertretung der deutschen Ärzteschaft bei der Regelung der ärztlichen Versorgung".6 Sie ist nicht nur in Fragen der Zulassung und des Niederlassungsrechts kompetent, sondern erhält eine eigene Berufsgerichtsbarkeit zur innerärztlichen Kontrolle und Disziplinierung, z.B. durch Entzugsmöglichkeit der Approbation. Die KVD kann dem Nachfragemonopol der Kassen das zentrale Anbietermonopol der gesamten Kassenärzteschaft entgegensetzen.

Kassenarztrecht bestätigt Sicherstellung durch KVen

Unmittelbar nach Kriegsende drängen die entstehenden Ärztekammern zunächst auf eine organisatorische Einbindung der KVen und damit die Regelung der kassenärztlichen Belange als Kammeraufgabe. Bereits 1947 zeichnet sich jedoch ab, daß eine westzonenübergreifende gesetzliche Regelung zur Stellung der Ärzteschaft im Rahmen der Sozialversicherung zu erwarten ist. 1948 bildet sich parallel zu den ersten Landesstellen von KVen auch die Arbeitsgemeinschaft der Landesstellen der Kassenärztlichen Vereinigungen heraus. Die Landes-KVen erhalten rechtliche und verwaltungsmäßige Unabhängigkeit, zur einheitlichen Regelung der kassenärztlichen Angelegenheiten erweist sich jedoch eine Mehrzonen-KV als notwendig. Nicht zuletzt entspricht diese Entwicklung einer Forderung der Krankenversicherungsträger.7

Im 1955 verabschiedeten Gesetz über das Kassenarztrecht werden die Beziehungen zwischen Ärzten und Krankenkassen geregelt:

Dieses Gesetz sichert der Kassenärzteschaft einen maßgeblichen Einfluß auf die Entwicklung der ambulanten medizinischen Versorgung im GKV-Rahmen, nicht zuletzt durch die starre Abgrenzung von ambulantem und stationärem Sektor. Der bei den KVen angesiedelte Sicherstellungsauftrag bedeutet für die Kassen auch, auf eigene Einrichtungen zur ambulanten Versorgung zu verzichten.9

1957 unternimmt das Bundesarbeitsministerium den Versuch, mit einem Krankenversicherungs- Neuregelungsgesetz (KVNG) die Verhandlungsposition der Kassen wieder zu stärken. Die ärztlichen Standesvertretungen bewerten diesen Gesetzentwurf als Aufweichung des Sicherstellungsauftrages und bringen ihn mit einer großangelegten Protestkampagne 1961 zu Fall. Damit werden sie zu einem gewichtigen Machtfaktor im politischen System der Bundesrepublik.

In den 60er und mehr noch in den 70er Jahren wird die Fähigkeit der KVen zur Sicherstellung der kassenärztlichen Versorgung zunehmend zum Gegenstand öffentlicher Auseinandersetzungen, da die Masse der Jung-Mediziner in die Krankenhäuser drängt und zu einem zahlenmäßigen Übergewicht der Krankenhausärzte führt.

Kassenarztrecht weiterentwickelt - Sicherstellungsauftrag nur modifiziert

Auch der Gesetzgeber reagiert: Im Januar 1977 tritt das Gesetz zur Weiterentwicklung des Kassenarztrechts (Krankenversicherungs- Weiterentwicklungsgesetz, KVWG) in Kraft. Es verpflichtet die KVen u.a., im Einvernehmen mit den Landesverbänden der Krankenkassen eine Bedarfsplanung zur Sicherstellung der kassenärztlichen Versorgung zu erstellen. Hintergrund: In ländlichen und Stadtrandgebieten herrscht Ärztemangel.

Einen Einschnitt bringt das 1977 vorgelegte Krankenversicherungs- Kostendämpfungsgesetz (KVKG), das von der Kassenärzteschaft bekämpft wird, denn ambulante und stationäre Versorgung sollen enger verzahnt werden. Insbesondere die Ermächtigung für Krankenhäuser, prä- und poststationäre Leistungen zu erbringen, wertet die Kassenärzteschaft als Angriff auf ihr Sicherstellungsmonopol. Sie erreicht wichtige Abschwächungen der Gesetzes-Intentionen:

Wie weiter mit dem Sicherstellungsauftrag?

Unter wachsendem Kostendruck im Gesundheitsbereich verständigen sich 1992 Regierungskoalition und Opposition über Grundlagen eines Gesundheitsstrukturgesetzes. In dem 1993 verabschiedeten Gesetz wird erstmals an die Substanz des bestehenden Kassenarztrechtes gegangen. Eckpunkte sind:

Damit werden Forderungen der Kassen, aber auch der um Besitzstandswahrung bemühten Ärzte erfüllt.10

Seit 1996 wandelt sich die Gesundheitslandschaft weiter deutlich: War die Krankenversicherung kontinuierlich seit 1883 berufsständisch gegliedert, so wird diese Struktur per Gesetz zugunsten eines intensiven Wettbewerbs der Krankenversicherer mit Wahl- und Wechselmöglichkeiten für die Versicherten aufgebrochen. Und im Gesundheitsreformgesetz 2000 wird mit den Integrationsverträgen (§ 140), wonach Kassen Verträge für diese neue Versorgungsform mit Ärzten oder ärztlichen Gemeinschaften auch ohne Mitwirkung der KVen abschließen können, das Sicherstellungsmonopol der KVen deutlich geschwächt. Denn der Grundsatz (seinerzeit durch das Gesundheitsreformgesetz 1993 bekräftigt) wird damit aufgehoben, wonach bei Rückfall des Sicherstellungsauftrages an die Kassen diese "gemeinsam und einheitlich Einzel- oder Gruppenverträge" mit Ärzten schließen (§ 72a Abs. 3 SGB V). Das heißt, der Gesetzgeber ist bei der Konstruktion des Sicherstellungsauftrages davon ausgegangen, daß die Kassen "gemeinsam und einheitlich" handeln.

Zeittafel

17.11.1881

Auf der Eröffnungssitzung der 5. Legislaturperiode des Deutschen Reichstages verliest Reichskanzler Otto von Bismarck die Kaiserliche Botschaft Wilhelm I., die als "Magna Charta" bezeichnet wird und als Geburtsurkunde der Deutschen Sozialversicherung gilt.

1883

Krankenkassen-Organisationsgesetz tritt in Kraft

15.06.1883

Krankenversicherungsgesetz wird verkündet und tritt am 1.12.1884 in Kraft

1894

Der Centralverband der Ortskrankenkassen als Vorläufer der heutigen AOK wird gegründet

1900

Gründung des Leipziger Wirtschaftlichen Verbandes (später Hartmannbund)

1911

Die Reichsversicherungsordnung (RVO) wird verkündet und tritt am 1.1.1914 in Kraft

23.12.1913

Das "Berliner Abkommen" zwischen organisierten Kassenärzten und Krankenkassen kommt nach Ärztestreik zustande

Dez. 1923 - Jan. 1924

Erneuter Ärztestreik. Schaffung des "Reichsausschusses für Ärzte und Krankenkassen" sowie des Kollektivverhandlungsmodells per Notverordnung

08.12.1931

Kassenärztliche Vereinigungen entstehen auf lokaler Ebene per Notverordnung

02.08.1933

Bildung der Kassenärztlichen Vereinigung Deutschlands (KVD)

15.10.1948

Konstituierung der Arbeitsgemeinschaft der Landesstellen der Kassenärztlichen Vereinigungen als Vorläufer der KBV (zunächst bizonal), Sitz: Bad Nauheim, ab 1951 Sitz: Köln

20.01.1950

Gesetz über die "Vereinigung der Sozialversicherungsärzte von Groß Berlin" (VSB) tritt in Kraft. Aufsicht: Magistrat, Abt. Gesundheitswesen

18.8.1955

Gesetz über das Kassenarztrecht (GKAR) v. 17.8.1955 tritt in Kraft

22.08.1955

Übernahmegesetz des Kassenarztrechts (GKAR). Umbenennung des VSB in Kassenärztliche Vereinigung Berlin

Jan. 1977

Krankenversicherungs-Weiterentwicklungsgesetz (KVWG) tritt in Kraft

01.07.1977

Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetz (KVKG) tritt in Kraft

1993

Gesundheitsstrukturgesetz

01.01.2000

Gesetz zur Reform der gesetzlichen Krankenversicherung ab dem Jahr 2000 (GKV Gesundheitsreform 2000)


1 Prof. Friedrich Wilhelm Schwartz, Vorsitzender des Sachverständigenrates: Perspektiven des Sicherstellungsauftrages, in: KBV -Kontext 14 v. Juni 2000, Sicherstellung auf dem Prüfstand, Dokumentation zum Symposium der Kassenärztlichen Bundesvereinigung am 10./11. Februar 2000 in Berlin, S. 7
2 Hedwig Herold -Schmidt, Ärztliche Interessenvertretung im Kaiserreich, in: Geschichte der deutschen Ärzteschaft, Hrsg.: Robert Jütte, Deutscher Ärzte -Verlag, Köln 1997, S. 84
3 1908 gab es allein 8.008 Gemeindekassen, 4.752 Ortskrankenkassen, 7.873 Betriebskrankenkassen, 38 Bau - und 772 Innungskrankenkassen, 1.444 Hilfskassen, 170 Knappschaftskassen. Allerdings sind nur rd. 13 Mio. Deutsche überhaupt krankenversichert. Mitteilungsblatt der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin, 7/1983, Nachdruck aus AOK-report,
S. 220.
4 zitiert nach: Prof. Friedrich Wilhelm Schwartz, a.a.O.
5 Eberhard Wolff, Mehr als nur materielle Interessen: Die organisierte Ärzteschaft im Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik 1914-1933, in: Geschichte der deutschen Ärzteschaft, a.a.O., S. 132
6 zitiert nach: Martin Rüther, Ärztliches Standeswesen im Nationalsozialismus 1933-1945, in: Geschichte der deutschen Ärzteschaft, a.a.O., S. 174
7 Thomas Gerst, Neuaufbau und Konsolidierung: Ärztliche Selbstverwaltung und Interessenvertretung in den drei Westzonen und der Bundesrepublik Deutschland 1945-1995, in: Geschichte der deutschen Ärzteschaft, a.a.O., S. 210 ff.
8 Am 23.3.1960 fällt das Bundesverfassungsgericht ein Grundsatzurteil über die Zulassungsbestimmungen für die Kassenarztpraxis. Danach kommt diese Regelung einer Beschränkung der Berufswahl nahe und ist deshalb mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Die zulassungsbeschränkende Verhältniszahl wird aufgehoben, es besteht ein freies Niederlassungsrecht, wobei die Zulassung für einen bestimmten Kassenarztsitz erfolgt. Ab Mitte der 70er Jahre kommen die KVen ihrer Sicherstellungsaufgabe u.a. durch den Niederlassungsservice als Beratungstätigkeit nach.
9 Thomas Gerst, a.a.O., S. 224
10 ebenda, S. 239