Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung – Jahresgutachten 2000/01

Der Rat diskutiert zwei Reformkonzepte: Systemwechsel und Systemevolution

2001 +++ Sachverständigenrat +++ Quelle: www.Sachverstaendigenrat-Wirtschaft.de

In seiner Beschreibung der Lage weist der Sachverständigenrat auf folgende Gesichtspunkte hin (Auszüge):

V. Gesundheitspolitik: Nach der Reform ist vor der Reform

„Mittel- und langfristig kommt es aber bei starren sektoralen Budgetvorgaben zu dysfunktionalen Rationierungen und Qualitätsminderungen.“

„Ausweislich des im Juni dieses Jahres erschienen ... Rankings der Gesundheitssysteme von 191 Ländern durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) im ‚World Health Report 2000‘ belegt Deutschland hinsichtlich des medizinischen Leistungsstandards den Platz 14 und unter Berücksichtigung der Kosten Rang 25. Eine vergleichende OECD-Studie bescheinigt dem deutschen System durchschnittliche Gesundheitsleistungen bei einem überdurchschnittlichen Ressourceneinsatz.“

„Deutschland ist ein Land mit einer außerordentlich hohen Kontaktrate zwischen Versicherten und Ärzten. Die Anzahl der Arzt-Patienten-Kontakte liegt im Durchschnitt bei etwa 12 pro Jahr und damit doppelt so hoch wie in den Vereinigten Staaten, Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden und sogar viermal so hoch wie in Skandinavien.“

„Die im internationalen Vergleich einmalig hohe Anzahl niedergelassener Fachärzte in Deutschland ist Indiz und Folge dieser fehlenden Gatekeeper-Institution (der Hausärzte).“

Reformkonzeption I: Systemwechsel

„Diese Fehlanreize und Abstimmungsmängel des (staatlichen) Gesundheitssystems können nicht durch einen Ausbau der administrativen Steuerung oder der korporatistischen Koordination beseitigt werden, sondern am ehesten durch eine deutliche Stärkung des Wettbewerbs sowohl zwischen den Kassen als auch zwischen den Leistungserbringern, verbunden mit Anreizen, die das Kostenbewusstsein der Patienten stärken.“

„Stattdessen stellt der Sachverständigenrat ein marktwirtschaftliches Steuerungskonzept auf der Basis einer obligatorischen Mindestversicherung zu Diskussion.“

„Durch die allgemeine Versicherungspflicht ist eine gesundheitliche Betreuung der gesamten Bevölkerung gewährleistet. Allerdings sollte sich dieser obligatorische Versicherungsschutz nur auf den Bereich der medizinisch erforderlichen, qualitätsgesicherten Kernleistungen beschränken, um für darüber hinausgehende individuelle Sicherungsansprüche Raum für differenzierte freiwillige privatwirtschaftliche Lösungen zu schaffen.“

 

Reformkonzeption II: Systemevolution

„Wenn – wie es den Anschein hat – die Politik den Weg zu einer letztlich privaten Pflichtversicherung für alle nicht gehen will und auch noch ungelöste Probleme einer Umsetzung einer solchen Konzeption entgegenstehen, ist nach Wegen zu suchen, wie durch Adjustierungen des derzeitigen Systems, im Sinne einer evolutorischen Weiterentwicklung, die beschriebenen Fehlanreize und Schwächen gleichermaßen im Interesse einer Senkung der Arbeitskosten und vor allem einer effizienten medizinischen Versorgung beseitigt werden können.“

„Hinsichtlich der Beeinträchtigung, derentwegen die Versicherten einen Arzt aufsuchen und hinsichtlich des Krankheitspanoramas ist der Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen gegenwärtig im Grundsatz offen ... Innerhalb dieses weiten Rahmens gibt es keine Leistungsbegrenzung, und es gibt keine inhaltliche Konkretisierung dessen, was in § 2 Absatz 4, § 12 oder § 70 SGB V mit ‚ausreichend‘, ‚bedarfsgerecht‘, ‚zweckmäßig‘, ‚wirksam‘ und ‚human‘ beschrieben wird.“

„Bei einer zukunftsorientierten Gestaltung der staatlichen Sicherungssysteme gilt es, auch den Bedingungen des europäischen Binnenmarktes Rechnung zu tragen ... Der Europäische Gerichtshof (EuGH) betrachtet die territorial begrenzten Gesundheitssysteme vom Prinzip her als eher hinderlich für die Entfaltung des Binnenmarktes, konzediert aber zugleich einen diesbezüglichen nationalstaatlichen Autonomieanspruch.“

„Da nicht mehr von einer Unberührbarkeit des nationalen Sozialrechts durch das europäische Wettbewerbsrecht ausgegangen werden kann, bedeutet dies für eine evolutorische Reform des deutschen Gesundheitssystems, dass als erstes die in § 13 SGB V genannten Voraussetzungen eines Übergangs vom Sachleistungsprinzip zum Erstattungsprinzip in der Europäischen Union entgrenzt werden sollten.“